Von der unendlichen Komplexität der Leere

 

(Von Ingmar Hensler)

 

„Denk jetzt mal an Nichts!“

„Ok“, sagte ich und versuchte angestrengt, eine gewisse Leere in meinem Kopf zu erzeugen. Leere, das klingt so einfach. Nichts, ein Wort mit so vielen Bedeutungen.

Doch ich versuche, nicht abzuschweifen, versuche tatsächlich, an so wenig wie möglich zu denken. Versuche, meinen Kopf nicht mit Gedanken zu füllen. So leer wie das tiefe Meer sollte er sein, mein Schädel. So leer wie die Tiefsee, in der so wenig lebt. So viel Raum, der von so wenigen Wesen genutzt wird, so große Weiten, die von so wenig Leben durchzogen sind. Dabei stimmt dies wohl eigentlich gar nicht so recht. Zwar ist zwischen Oberfläche und Grund, an dem dann wieder ein paar Fische, Würmer und Krabben, die sich über von oben herabfallende Kadaver hermachen, vorhanden, doch dazwischen herrscht dennoch reges Durcheinander. Plankton, Krill und Quallen teilen sich mehr oder weniger friedlich diese unendliche Weite, laben sich an Algen und vermehren sich endlos und endlos, bilden den Anfang der Nahrungskette auf diesem Planeten und sind dabei doch praktisch für das Auge unsichtbar. So ist es eben mit dem Wesentlichen.

Doch weiter oben ist es dem nicht unähnlich. Auf der Oberfläche dieses Planeten sehen wir doch nur eine hauchdünne Schicht, in der wir uns tummeln und die wir doch mit allerlei anderem Gekreuche zu teilen haben. Und auch hier ist die Mehrheit der Bevölkerung schier unsichtbar - zumindest für uns, die wir nicht recht schauen können. Sind da doch die Ameisen, Würmer, Fliegen und all die kleinen Lebewesen, die noch mit bloßem Auge zu erkennen sind. Doch direkt danach folgen dann schon eine Unmenge Bakterien, die nicht nur den Boden zu der Lebensgrundlage machen, die die Erde für uns ist, sondern die auch in uns selbst, unserem Körper, unseren Eingeweide für Funktionstüchtigkeit, für Energieversorgung sorgen, die dafür sorgen, dass all diese Gedanken meine Hirnwindungen durchfluten können, während ich versuche, eben dies zu vermeiden.

Bereits wenige dutzend Meter weiter oben glaubt man schon kaum mehr an unsichtbares Leben, ist es doch abermals für uns irrelevant. Doch ebenso wie in der Tiefsee gibt es auch in der Luft Insekten und Kleinstlebewesen, die sich hier tummeln, für die die Luft so dick ist, wie für andere etwa Wasser und die sich darin ebenso Behände zu bewegen vermögen.

Wer kann jedoch schon sagen, wie es sich noch weiter oben verhält?

Die Erkenntnisse der Wissenschaft über Leben in dieser Entfernung vom Erdboden erschöpfen sich bisher mit einigen Wirren Menschen, die in diesen Höhen von Ballons abspringen.

Und doch ist sie nicht etwa leer, die Leere des Weltenraums. Es ist bloß sehr wenig drinnen. So muss man den Kubikmeter schon bis nach Alpha-Centauri strecken, um so viele Gasatome einzufangen, um einen einzigen Kubikzentimeter Luft zu füllen. Und dies ist noch der ach so leere Raum zwischen den Sonnensystemen in unserer Galaxie. Zwischen den Galaxien, beispielsweise bis zum Orion, ist noch weit weniger Zeug vorhanden, an Leben will man da gar nicht erst denken.

Doch es ist nicht Leben oder Gas, das selbst diesen Raum füllt. Es ist etwas, das zu sehen wir nicht einmal zu träumen brauchen, das wir gerade einmal experimentell nachweisen können - virtuelle Teilchen. Ständig entstehen sie überall im Universum an jeder erdenklichen Stelle und das auch noch gleich in Paaren. Und das, bloß um direkt danach wieder zu vergehen als wären sie nie da gewesen, keine Spur ihres Auftauchens hinterlassend. Subatomar nennt man sie wohl und könnte sie doch sogar nutzen, kann man doch Metallplatten in solch enger Entfernung zueinander aufstellen, dass nur eines der virtuellen Teilchen im freien Zwischenraum bleibt, während das andere absorbiert wird und sogar ein Strom fließen kann. Aus dem Nichts. Aus Nichts heraus. Da müssen die Philosophen erst einmal mit klar kommen.

Nichts ist es und zum Nichts wird es. Aber es geht ja sogar noch viel weniger, ja sogar negativ. Dazu kennen wir dann endgültig keinen Vergleich mehr. Ist das noch Nichts oder ist das schon gar nichts? Ist es ein Weg aus dem Etwas in etwas Anderes? Zumindest wissen wir, dass es mal was war, dass es einmal ein Lebensspender war, in dem auch fast Nichts passiert ist.

So eine Sonne kann ja schon ein recht schattiges Plätzchen sein. So viel Zeug und so wenig damit zu tun. Die Temperatur der Sonne ist für eine Verschmelzung von Atomkernen eigentlich viel zu niedrig. Man muss schon sehr genau treffen, um etwas so Kleines mit etwas so Kleinem zu verschmelzen. Doch die Menge macht es halt. Und irgendwann ist der Ofen aus, ist Wasserstoff zu Helium und so weiter fusioniert und am Ende im Kern zu einem Klumpen Eisen zusammengepappt der irgendwann dann auch noch zu groß, zu schwer wird, um sich selbst in der Existenz halten zu können, und sich dann von dieser Realität abkoppelt, sich auf nimmer Wiedersehen verabschiedet und einen pechschwarzen Schild um sich herum zieht. Manchmal sind Dinge einfach nur noch schwer.

„Hey, bleib mal bei der Sache, dein EEG schlägt ja aus als wärst du am ... naja du weißt schon ...“

„Hä, was. Oh. Ja, schon gut.“ Der Sand an diesem Strand war weiß wie nirgends sonst auf diesem Globus und das Meer davor schlug strahlend blau in die Lagune ein. In der Ferne konnte ich ein weibliches Wesen in der seichten Brandung baden sehen, wie sie die Formen ihres schlanken Köpers von den Wellen umspielen ließ, und begann instinktiv schneller zu

gehen. Mein Lendenschurz war schon bedenklich kurz geworden ...

„Ja, so ist es besser.“