Verzweiflungen...

Und wieder Weihnachten. Immer ist es diese Jahreszeit, in der es mich vollkommen deprimiert vor die Türe zieht und jedes Jahr vermag es nicht einmal der Anblick vieler Leidensgenossen, all der Menschen die genau wie ich den heiligen Abend in Kneipen und Cafes verleben, die keine Lieben haben, mit denen sie diesen einen, besonderen Abend verbringen könnten, der mich vermag aufzuheitern, der mich vermag wenigstens zu trösten, der mir zeigt, dass ich nicht der einzige Leidende bin. Und so ziehe ich meine Runden durch die Stille der Stadt, schaue mir die vollen Schaufenster an, die von dem kommerziellen Geist dieser Tage nur so strotzen, bin angewidert von dieser Zerstörung der eigentlichen Schönheit dieser Tage durch die so offen an den Tag getragene Hintergründigkeit.

Weiter treibt mich mein Weg, treibt mich an gar sakrale Orte. Niemals habe ich diesen Platz entweiht, niemals habe ich mich auch nur mit bösen Absichten diesem Platz genähert. Ich schlendere mit betrübtem Gesicht über den Trampelpfad an der Mauer entlang, der der offizielle Zugang zu der Bank war, die so schöne Erinnerungen für mich trug. Es war fast, als könnte ich uns dort noch einmal sehen, als stünde ich förmlich neben mir, könnte uns dabei zuschauen, wie sie mir seinerzeit diese verführerischen Blicke zuwarf, mich verspielt an der Hand nahm und hinter sich her zog, mich dort hin führte, wo sie mich vor hatte, wie sie sich wieder von mir losreisst, sich langsam ihre Blouse aufknöpft und mir dann entgegenwirft, ihren Oberkörper so freilegt und ihre Nacktheit im Licht des hell scheinenden Mondes zur Schau stellt, wohlwissend, dass da nur ich war, der sie in diesem Moment beobachten würde, sehen könnte. Immer weiter trieb sie dieses Spielchen, trieb mich dabei zur hormonellen Raserei, die ich in meinen Augen auch kaum mehr verbergen konnte, die ich am liebsten radikal ausgelebt hätte, und doch hielt mich diese dumme Vorstellung von Moral und Anstand zurück, die ich von der Gesellschaft um mich herum aufgeschnappt hatte. Aber sie liess einfach nicht locker, wollte ihren Kopf durchsetzen und mich noch heisser machen als ich ohnehin schon war. Mit immer neuen, immer verführerischeren Blicken zog sie mich hinter sich her, liess dabei ein Kleidungsstück nach dem anderen ins Gras fallen damit ich es ihr hinterhertragen konnte und zog mich unrettbar in ihren Bann. Dann irgendwann zog sie gar ihr Höschen unter ihrem Rock aus, warf es mir zu, liess mich danach springen wie ihr Hündchen, machte mir so noch unmissverständlicher klar, dass ich zu ihr gehörte, dass ich ihr gehörte, dass sie mit mir machen konnte was sie wollte, weil ich es zuliess, weil ich mich ihr ganz und gar geschenkt hatte. Es war mir gleich ob ich mich dabei aufgebe, ob ich mein eigenes Leben damit vernachlässige, ob ich überhaupt noch ein eigenes habe. Dieses unbeschreibliche Glücksgefühl, das ich mit jeder Sekunde, die verstrich, in der ich ihr Lächeln bewundern durfte, in der ich mich nicht einsam fühlte, in der sie für mich da war und ich einen Menschen hatte, für den ich da sein konnte verblieb für sehr lange Zeit das einzige, wonach es sich für mich zu streben, wofür es sich für mich zu leben lohnte. Und jetzt, da ich wieder an diesem Sakralen Ort stehe und meinen wilkuerlichen Haluzinationen heuchle wird mir erst recht bewusst, wie sehr ich all dies gebraucht hatte, wie sehr ich in dieser Rolle aufgegangen war und wie sehr mir all dies nun fehlt, jetzt da ich es nicht mehr habe. Immer und immer wieder spielt sich diese eine, unschuldige Szene vor mir ab und immer wieder wünsche ich mich in diese Tag zurück, wuensche mir wenigstens die Reproduktion dieses Lebensgefühl wieder herbei, wuensche mein Leben in diesen Glückszustand versetzt, aber natürlich kann dies niemals so geschehen. Mir rinnt eine Träne über die Wange bei den Gedanken, die in mir aufkommen, rinnt über mein gesicht, über die Lachfalte um meinen Mund, denn ich muss bei dem Gedanken an die Schönheit dieses Momentes, der sich eben noch vor meinem inneren Auge abgespielt hatte anfangen zu schmunzeln. Lange hält es aber nicht vor und ich kann die Sturzbäche nicht mehr zurückhalten, beginne bitterlich zu weinen. Wie gerne hätte ich den Mut all meine Wut über mich selbst jetzt in die Nacht hinauszuschreien, all meine Trauer über die Art meines Lebens lautstark kund zu tun und lauthals zu meinen Tränen zu jammern, aber ich schaffe nicht mehr als ein leises Schluchzen und selbst nachdem ich mich auf der Bank niedergelassen habe um mich im Schatten der Bäume zu verstecken, um meine weich gewordenen Knie ein wenig auszuruhen ringe ich doch eher nach Luft durch meine verstopfte Nase als wirklich wenigstens einen einzigen, befreienden Schrei auszustossen. Immer wieder schiessen neue Tränen aus meinen Augen, immer wieder kommen diese verzweifelten Gefühle in mir auf, die ich an diesem Ort erst recht nicht schaffe zu unterdrücken und immer wieder ringe ich erneut nach Luft, unterbreche mein Leid nur für Sekunden. Es dauert ewig scheinende Minuten bis ich es dann doch schaffe mich zu beruhigen und aufzustehen, meinen Weg durch die Nacht fort zu setzen und einen neuen Pfad zu suchen. Aber selbst als ich schon viele Meter entfernt bin will es mir nicht vollends gelingen meine Tränen zu unterdrücken. Ich lasse sie jetzt einfach laufen.

Ich gehe durch die Stadt, schlendere an meinem Stammcafe vorbei, schaue durch das Fenster. Die Menschen beobachten mich, sehen meine betrübte Mine und schauen wieder weg, versuchen mich zu ignorieren. Wie oft habe ich an ihrer Stelle dort gesessen und eben so gehandelt, nur dass ich dann nicht alleine war. Ich schaute ebenso weg, wie sie dies nun taten, nur um mir nicht die Verantwortung aufzuhalsen, über einen anderen Menschen bescheid zu wissen, mir Sorgen um sein Wohlbefinden machen zu müssen. Die Anonymität ist es, was man oft sucht, und wie frustrierend kann es sein, wenn man sie gefunden hat. Dennoch war es nur allzu oft genau dieses Cafe gewesen, in dem ich mit einem Freund zusammen wildfremde Mädels aus ihrer Anonymität uns gegenüber gerissen habe. Wie oft haben wir uns darüber lustig gemacht, mit was für im Grunde unglaublich plumpen und dumme Sprüchen wir dabei mit Erfolg beschert wurden. Wie oft habe ich hier auch schon selbst mit einer quasi angebeteten gesessen, habe mich mit ihr unterhalten. Ich mochte es noch nie konsumiet zu werden, auf Fragen einfach so zu antworten oder auch einfach nur Fakten vorgeworfen zu bekommen. Zum einen kann man sich dies in dieser Form sowieso nicht merken und zum anderen ist dies reichlich uninteressant und läuft sich äusserst schnell sehr tot. Es war wohl genau dies, was mir immer vorgeworfen wurde wenn ich von ihr dann gesagt bekam, das ich "Interessant" wäre. Gott, wie oft habe ich diesen dummen Spruch schon hören müssen. Es ist fast so alt wie die "Ich ruf dich an"-Lüge. Oft scheint es mir die höfliche Formulierung zu sein für "Fick dich selber du Arschloch!", und allzu oft ist mir genau diese direkte Formulierung doch so viel lieber als weiter im Trüben fischen zu müssen. Denn immer war ich eigentlich nur auf der Suche nach einem zweiten Herz für mich, nach einem Menschen an meiner Seite die diese Bezeichnung auf verdiente. Dabei wollte ich keine Zeit verlieren, keine Energie daran verschwenden dadurch, dass ich versuche herauszufinden, was sie jetzt eigentlich gemeint hatte, was sie jetzt tatsächlich von mir will. Anders herum habe ich es auch immer so gehalten, habe mich mit der Wahrheit nur zurück gehalten, wenn es ausdrücklich gefordert war - oder eben gefordert war dies nicht zu tun. Aber im Falle des Falles waren meine Formulierungen oft entsprechend gnadenlos direkt und manchmal sogar unverschlüsselt. Ich mag es nicht, konsumiert zu werden. Wenn ich etwas über mich berichte, eine Geschichte von mir erzähle, so möchte ich nicht, dass man mir einfach nur zuhört, sondern dass man sich dabei seine eigenen gedanken machen muss um mir folgen zu können, dass man als aktiver Zuhörer auch einmal um ein paar Ecken denken muss um mich verstehen zu können. Es ist weniger, dass ich es für am effektivsten halte, wenn man Informationen auf diesem Weg aufnimmt, es ist vielmehr die Erfahrung zu entdecken, ob mein Gegenüber auch intelligent genug scheint, ob das Verständnis ausreicht sich mir wenigstens so weit zu öffnen, mir so weit entgegen zu kommen, dass man mich versteht. Und das in jeder Hinsicht. Aber die meisten Menschen blockieren ohnehin nach wenigen Minuten schon, wollen gar nicht erst wissen, was man noch zu sagen hat weil es einfach zu anstrengend scheint mir zuzuhören. Ich beobachte die Menschen hinter dem Fenster ein wenig, sehe mir die inhaltslosen Gesichter an die sich gegenübersitzen und sich krampfhaft versuchen zu unterhalten, die sich leere Worthuelsen an die Koepfe werfen ohne auch nur im geringsten auf den anderen einzugehen, ohne auch nur verstehen zu wollen. Ich sehe in die leeren Augen die sich von mir abwenden, sobald sie gemerkt haben dass ich ihnen zu tief hinein schaue, schaue direkt an was die Menschen versuchen zu verbergen und fast könnte ich über die Verwirrtheit, die Irritation, die lächerliche Unsicherheit der versammelten Arroganzien, die versuchen sich hinter ihren emporgestreckten Glimmstengel zu verbergen lachen, wenn es nicht so traurig wäre wie diese Menschen über andere denken, wie sie mit ihnen umgehen. Tiefe Verachtung ist das einzige, was ich ihnen entgegenbringen kann, habe ich doch die Alternative schon versucht, habe ich doch schon versucht sie auf die Pfade der Erkenntniss zu bringen, sie dazu zu bringen einmal über ihr eigenes Verhalten, über ihre Sicht der Dinge nachzudenken ohne dabei auf die arroganten, verschobenen Mitläuferinnen an ihrer Seite Rücksicht zu nehmen. Wie sinnlos, wie hoffnungslos war dies doch gewesen und wie lange habe ich doch gebraucht bis ich selbst dies eingesehen hatte. Manche Dinge kann man eben nicht ändern, auch wenn es noch so gut wäre.

Wieder ziehe ich an den Schaufenstern der Innenstadt vorbei, suche nach neuen Einblicken, nach Dingen, die ich noch nicht gesehen habe, vielleicht gar neue Geschäfte. Ich habe kaum darüber nachgedacht, habe einfach meine Fuesse meinen Weg suchen lassen, nicht weiter darauf geachtet, wo ich nun tatsächlich hin gehen würde. Aber nun, da die visuellen Beeinflussungen zu fehlen beginnen, muss ich anfangen mir Gedanken zu machen über das, was ich bisher zusammengelaufen habe, wenn mir schon nichts besseres eingefallen war. Fast wie schuppen von den Augen fiel es mir, als ich wieder über einen kleinen Umweg in richtung Heimat ging, als ich im Geiste schon fast wieder vor meiner Haustür stand. Es war genau der gleiche Weg gewesen, den ich immer mit ihr gegangen war, wenn wir des Nachts losgezogen waren um die Stadt bei Dunkeleit zu geniessen. Fast jede Nacht waren wir losgezogen, fast jede Nacht das gleiche Zeremoniel. Es war meist nach Mitternacht, wenn wir den letzten Film geschaut hatten und immer noch nicht müde genug waren, wenn wir Ferien hatten oder es einfach nur Wochenende war und wir beide am nächsten Morgen ausschlafen könnten, dann kam meist sie auf die Idee, dass man sich doch wieder anziehen könnte, und einfach durch die Stadt spazieren gehen könnte. Ich stimmte dem immer zu, genoss ich es doch selbst immer masslos, sie an meiner Seite durch die Ewigkeit zu geleiten, mit ihr alleine die Leere der totenstillen Stadt zu erfahren, so zu tun, als gäbe es nur uns beide auf dieser Welt und als würde sie uns gehören. Aber auch jedes mal, wenn wir sonst nichts besseres zu tun hatten - oder dieses schon getan hatten - oder auch wenn sie einmal Abwechslung von meiner Arbeit brauchte, die mich ihr immer wieder entrissen hatte, wenn sie mich wieder einmal nur für sich alleine haben wollte, dann zogen wir los. Anfangs wusste ich damit nichteinmal etwas anzufangen, wollte eigentlich schon auf der Türschwelle auf dem schnellsten Weg wieder nach Hause, aber schon nach wenigen Minuten und schon bei ihrem ersten Versuch erfuhr ich dann, wie wundervoll es war, auf diese Art mit ihr alleine sein zu können, zu spueren wie es war diese absolute Zweisamkeit geniessen zu können. Ich genoss es immer sehr wenn sie bei mir war, genoss nicht nur sie, sondern auch und vor allem die Tatsache, dass ich nicht alleine war, dass meine Einsamkeit einen Trost gefunden hatte mit dem ich leben konnte, und das machte mich weit mehr glücklich, als alle Bettgeschichten die ich je erlebt habe. Nicht mehr alleine zu sein, nicht mehr einsam, ein himmelweiter Unterschied. Ich habe seit vielen Monaten vermieden lange alleine zu sein, habe mich immer mit Freunden oder irgendwelchen Mädels umgeben, habe vielen Ablenkungen gefrönt die mir halfen die Zeit totzuschlagen, die ich nicht mit Arbeit , Uni oder Lehre verbringen konnte und doch verblieb immer der bittere Beigeschmack der vollkommenen Gleichgueltigkeit all dieser Menschen. Selbst wenn es die besten Freunde waren, die bei mir waren, selbst wenn man sich schon Jahrzehnte kannte, sich absolut alles sagen konnte, so fühlte ich mich dennoch genauso elend wie am ersten Tag. Und dieser Marsch dem Pfad nach, den ich einst so geliebt habe nicht alleine zu gehen, den ich so spazieren geliebt habe hilft darüber auch, oder besser erst recht nicht hinweg - ganz im Gegenteil.

Ich laufe den Berg hinauf. Eigentlich gibt es dort oben kaum mehr etwas zu sehen, aber die Einsamkeit, die dieser Ausblick mir zu versprechen vermag reizt mich in meinem Zustand doch schon. Ich weiss von einer Bank am Rande des Abhanges, des Abgrundes des Tales, in dem ich so viel, so lange beobachten könnte, Orte beobachten könnte, an denen ich schon gewesen, an denen ich an besseren schon gefeiert habe. Zu dieser wollte ich gehen, wollte dort den Rest der Nacht abwarten, wollte von dort aus den Sonnenaufgang bewundern, wenn mir denn schon nichts anderes blieb. Ich gehe die Strasse hinauf und das letzte Haus liegt neben mir. Es ist, als würde mich damit auch der letzte Rest Menschheit mir diesem Haus verlassen. Gleich würde ich unter der Autobahnbrücke auch den Fussweg verlassen müssen der dort endete und so das letzte Stück Zivilisation verlassen. Ich schaue mich kurz um, geniesse die merkwürdige Stille, die unter der himmlischen Abschirmung herrscht, schaue unter der Brücke entlang auf den trockeneren Streifen Land unter ihr und merke, dass es tatsächlich ein wenig zu nieseln begonnen hatte, kaum spuerbar, aber doch im Kontrast deutlich sichtbar. Es scheint mir, als wolle selbst das Wetter Anteil an meinem Leid nehmen, auch wenn ich auf diese Art der Beileidsbekundung durchaus hätte verzichten können. Mein Blick fällt auf die Wand neben mir, den ersten Stumpf der Autobahn, die nun direkt über mir verläuft. Da ist eine Treppe in dem Huegel daneben, ich kenne sie wohl. Die Versuchung beginnt in mir aufzusteigen, beginnt meinen Puls tatsächlich zu beschleunigen wenn ich nur daran denke, was mir dort oben schon passiert ist. Aber das sei eine andere Geschichte und ich kann sie recht erfolgreich unterdrücken. Dennoch gehe ich auf die Stufen zu, die ich im halbdunkel der strassenlaternenbeleuchteten Nacht gerade so erkennen kann. Ich kann nicht sagen, dass ich mich tatsächlich bewusst dazu entschlossen hätte, denn wenn ich logisch darüber nachgedacht hätte hätte ich es wohl bleiben lassen, aber dennoch finde ich mich irgend wann am Rande der Raserstrasse wieder, stehe neben der Leitplanke, die an dieser Stelle doppelt und breiter ausgelegt ist. Darüber nachzudenken, ob ich zu der Raststätte gehe und einen Kaffee trinken sollte oder über die Brücke meinen Weg suche lohnte nicht weiter, wollte ich doch nun ganz gewiss nicht mehr andere Leute sehen, irgend welche Unbekannten um mich haben, mich noch einsamer fühlen als ohnehin schon. So gehe ich weniger Sekunden später nach rechts über den schmaleren Pfad am Abgrund entlang. Ich denke garnichts. Keinen rechten, klaren Gedanken kann ich fassen. Zu sehr drängen nun all die schmerzlichen Erinnerungen über diesen Ort aus meinem Unterbewusstsein, verzerren meinen Blick für die Realität - und das Wetter trägt sein übriges zu meiner Stimmung bei. Immer einsamer fühle ich mich, immer irrelevanter scheint mein Leben zu werden je weiter ich auf dieser Bruecke herumlaufe. Ab und zu rast ein Wagen an mir vorbei, bläst mir den feuchten, kalten Odem der Strasse entgegen und verschwindet wieder in der Tiefe der Nacht, hinter der nächsten Kurve. Nur die Laster bringen ein wenig Abwechslung, wenn sie mich vollends ihre Verachtung zu spueren geben, wenn sie hupend und bruellend an mir vorbeiziehen, mir den Hass ihrer Reife noch viel nasser zu schmecken geben. Ich drehe mich in die Nacht, schaue in die Dunkelheit, versuche in der Tiefe der Aussicht den Felsen zu erkennen, in dessen Schatten ich wohne, versuche einen Plan in all den Lichtern zu sehen, die sich zu meinen Füssen tummeln, in der verwirrenden Ansammlung von Strassenlaternen, die das Innere der Stadt erhellen, versuche mein Haus zu finden, versuche den Garten zu finden, in dem ich eben noch gewandelt bin, in dem ich meine Lieblingsbank besucht hatte und wieder versinke ich in Vergangenheitsdepressionen, fühle mich weit mehr als nur einsam. Es ist, als wäre ich gestern noch glücklich gewesen, als wäre es die neueste Erfahrung überhaupt, eine Erfahrung, der ich mich kaum mehr gewachsen fühle mit jeder Minute, mit jeder Sekunde die vergeht, mit jedem tropfen Wasser der vom Himmel fällt und der von dem Fluss weit unter mir hinfort getragen wird. So fällt mein Blick nach unten, fällt auf die scheinbar unendliche Tiefe, in die sich jeder Tropfen verabschiedet, der an mir vorbei fällt, schaue voller Mitleid diesen kleinen Geständnissen des Himmels über mir nach, den spürbaren, sichtbaren Zugeständnissen der Naturgewalten auf die Welt. Und ich werde neidisch. Wie einfach wäre es, sich einfach diesen kleinen, glücklichen Tropfen anzuschliessen, die als Spielball der Elemente so einfach mit dem Strom schwimmen. Wie leicht wäre es, sich all dieser Plagen zu entledigen, einfach alles hinter sich zu lassen, all das, was man bisher vollbracht hat als abgeschlossen zu betrachten, sich nur zu freuen über das, was man schon geschaffen hat, woran sich die Nachwelt vielleicht erinnern könnte. Wie schön wäre es, sich nicht mehr all dem Schmerz aussetzen zu müssen, der Tag für Tag auf einen einprasselt wie all die Regentropfen auf mein Haupt. Ach, könnte ich doch genau so konsequent sein wie einst mein alter Freund. Oh wie beneide ich ihn, dass er den Mut - oder war es Ohnmacht - aufgebracht hat, all diesen menschlichen Spielereien, die doch nur Schmerz nach sich ziehen wenn sie nicht schon währenddessen diesen Produzieren, zu entfliehen. Warum kann ich nicht ebenso konsequent, so pragmatisch mit meinem Leben umgehen, wann werde ich endlich zu mir sagen können, dass das Mass, was ein Mensch ertragen kann, was ich ertragen kann, endgültig voll ist, dass ich nicht weiter gespannt, weiter gebeugt werden kann. Ich lege meine Hände auf das Geländer, setze einen Fuss auf den Absatz unter mir und fast ist mir, als könnte ich fühlen, was er gefühlt haben muss, als hätte ich ebenfalls schon so sehr mit der Welt abgeschlossen, dass ich all das auf mich nehmen könnte. Auch den zweiten Fuss hebe ich zu dem anderen, beuge mich ein wenig vor möchte die Tiefe vor mir, unter mir zu einem Teil von mir werden lassen und mir ist, als könne ich fliegen, als würde ich jeden Moment abheben, möchte loslassen und einfach nur dieses Gefühl geniessen, ein letztes mal etwas ganz und gar schönes in mich aufnehmen können. Aber selbst dabei gäbe es das böse Ende schon allzu bald nachdem ich damit angefangen hätte, fast schon direkt wenn es mir richtig gut ginge, wenn ich in höchsten Sphären des Glückes schwebte würde es zu Ende sein, würde mir das Glück wieder entreissen, so wie es immer der Fall war, wenn ich in diesem Zustand verweilte, wenn ich gar gerade erst in diesen eingetreten war. Immer kam irgend etwas, irgend jemand dazwischen, zerstörte mir alles, was ich mir gerade erst für meine Zukunft erhoffte - und praktisch immer war es eine Herzensangelegenheit. Wäre es hier anders? Eigentlich nicht.

Ich trete wieder einen Schritt zurück, nehme die Hände vom Geländer und stecke sie in meine Jackentaschen. Fast schon andächtig beschaue ich den Ort an dem ich eben gestanden hatte, an dem ich die Gelegenheit fast wahr genommen hätte, an dem ich mit dem Schicksal gespielt habe. Es war wie jedes mal, wieder hatte ich die Frage, ob es dir Ohnmacht des Lebens ist, der man entfleucht, ob es der Mut ist, sich seiner weiteren Existenz zu stellen, ob es die kraftlose hoffnungslosigkeit ist, die mich jedes mal wieder nach Hause gehen und auf bessere Zeiten hoffen lässt, nicht beantworten können. Ich drehe mich zur Seite und gehe langsam wieder nach Hause.

Lieber freiwillig schuldig an einem Leben das Spass macht als unfreiwillig unschuldig an einem Leben in traurigen Verhältnissen.