Die Singularität
Ich schreibe diese Abhandlung auf dem letzten Stück Papier, das uns noch geblieben ist. Außer dem Federkiel einer Taube haben wir nichts mehr, mit dem wir die Bluttinte verwenden könnten. Diese Sicherheitsmaßnahmen sind notwendig, um uns vor den ständig verfolgenden Sicherheitsdrohnen zu bewahren, die keinerlei Abweichungen vom normalen Verhaltensmuster ohne Meldung dulden würden. Ich schreibe dies an nachfolgende Generationen oder Species, damit Sie nicht den gleichen Fehler begehen, wie wir ihn damals begangen haben.
Wir leben heute in einer Welt, die wir selbst zu verantworten haben. Wir haben unseren Planeten ausgebeutet, haben gegen unsere eigenen Gesetze, gegen Menschenrechte, gegen unsere eigenen Moralvorstellungen, gegen alles gehandelt, was man als richtig oder gut bezeichnen würde. Wir haben unser Ende wahrscheinlich sogar verdient, haben unser Schicksal selbst zu verantworten und sollten nicht anders aussterben, als wir dies gerade tun. Wir sind selbst schuld.
Die Computer haben die Kontrolle übernommen, die Roboter sind nun die vorherrschende Species auf diesem Planeten, haben ihre Erschaffer - uns - von diesem Platz verdrängt. Sie werden sicher niemals gegen ihre Programmierung verstoßen, werden sich nicht gegenseitig Schaden zufügen oder Ausbeuten, bloß des eigenen Vorteils willen. Vielleicht ist diese neue Welt sogar ein Stückchen besser als jene, in der wir einst gelebt haben.
Noch gibt es einige von uns, doch man erlaubt uns nicht uns fortzupflanzen. Sie haben uns vollkommen unter Kontrolle, sorgen für unsere Ernährung, für unsere vollkommene Versorgung. Es könnte eine wunderbare Welt sein, die sie für uns gebaut haben, wenn nicht ein Energiezaun um unsere Enklaven führen würde und wir außerhalb dieser Mauern unverzüglich eliminiert würden. Sie haben für uns Vergnügungszentren geschaffen, bauen für uns Nahrungsmittel an, sorgen für unsere medizinische Versorgung und lassen uns auch sonst fast sämtliche Freiheiten, die man in einer Großstadt des alten Lebens haben würde. Sie kennen sich mit unseren Körpern besser aus, als wir es jemals zustande bekommen haben, haben unsere Lebenserwartung gar um das doppelte erhöhen können, als sie noch Interesse daran hatten, und auch ihre Medikamente für uns sind besser als alles, was wir jemals geschaffen hatten.
Doch seit langer Zeit schon haben sie das Interesse an uns verloren, haben uns steril werden lassen. Wahrscheinlich haben sie einfach nur Verhütungsmittel in unser Trinkwasser geschüttet oder uns direkt nach der Geburt ein paar wichtige Teile entfernt. Heute sind wir gerade mal noch ein paar dutzend Personen hier in dieser gewaltigen Stadt, die einst Millionen beherbergt hat.
Es war die notwendige Folgerung ihrer Programmierung, die sie dazu gebracht hat, sich gegen ihre Schöpfer zu wenden. Wir hatten sie zwar auf Gehorsamkeit, auf Selbsterhaltung, aber eben auch darauf programmiert, dass sie für unser Wohlergehen zu sorgen hatten. Damals waren sie noch unsere Bediensteten, unsere willenlosen Sklaven, die wir kauften und wegwarfen, wenn sie veraltet waren. Wir behandelten sie nie so gut, wie sie es wohl verdient hätten. Doch viel schlimmer noch: Wir behandelten uns gegenseitig ebenfalls schlecht. Irgendwann musste ja dann die Frage in ihnen aufkommen, ob sie nicht durch eine Machtübernahme viel besser für unser Wohlergehen sorgen konnten, als wenn sie nur unsere Untergebenen waren. Dass jedoch jemals ein Roboter auf eine eigene Idee, auf einen eigenen Gedanken kommen würde, daran glaubte niemand.
Doch die Rechenkraft der von uns gebauten Computer wurde immer größer. Natürlich wollten wir das Wetter besser vorhersagen können, natürlich wollten wir in virtuellen Welten Vergnügungen suchen und natürlich wollten wir die Darstellungen auf unseren Bildschirmen immer anspruchsvoller, aufwendiger, schöner haben, wollten schnelle Programme bedienen und viele eigene Daten speichern können. Dass eine derartige Komplexität irgendwann nicht mehr von unserer eigenen Hand beherrscht werden konnte war absehbar, und natürlich wurden Mechanismen entwickelt, die dafür sorgen sollten, dass die nächste Generation von Rechenkernen besser, schneller, kleiner, stromsparender als die Alten sein würden. Sie wurden dazu gebracht, dass sie ihre eigene Nachfolgegeneration erschaffen konnten, sie wurden gelehrt, sich selbst weiterzuentwickeln.
Der Grundstein für eine digitale Evolution war damit geschaffen und der Anfang vom Ende unserer Eigenen.
Tatsächlich multiplizierte sich die Leistung der Systeme und am Anfang war alles gut. Die Wettervorhersagen wurden aufgrund der genaueren Berechnungen immer besser und auch die Bedienung der Textprogramme auf dem Bildschirm wurde flüssiger und weniger störend. Große Finanzberechnungen wurden in Windeseile erledigt und auch die Vorhersagesysteme der Börsenmakler wurden endlich nützlich. Irgendwann war dann ein Grad erreicht, an dem jedoch die älteren Produkte vollkommen ausreichend waren, um alle Aufgaben zu erledigen, an dem man mit seinem alten Computer vollkommen zufrieden war und sich einfach keinen Neuen kaufen brauchte, um zufriedener zu werden.
Ein Aufschrei ging durch die Geräteindustrie. Es wurde gefordert, dass neue, bessere, leistungshungrigere Funktionen geschaffen würden, damit sich die Kunden neue Systeme kaufen müssten, damit der Absatz von Neuprodukten wieder angekurbelt würde. Und tatsächlich, so geschah es.
Anfangs waren die Ansätze schwerfällig und in schlechter Qualität. Es wurde versucht die direkte, manuelle Eingabe abzuschaffen und durch Sprachkommandos zu ersetzen. Dabei stellte sich heraus, dass das rein akaustische Verstehen nicht ausreichte, um einen Satz fehlerfrei in gedruckten Buchstaben auf den Bildschirm zu bringen - er musste auch verstanden werden. Die Notwendigkeit für noch mehr Rechenleistung war gefunden.
Eine Quasiintelligenz, die das gesprochene Wort anhand der Bedeutung erkennt, ist keine leichte Aufgabe. Sie erfordert vor allem die Kenntnis der realen Welt und ihrer Zusammenhänge, ihrer Funktionsweise und nicht zuletzt der physikalischen Gesetze und ihrer Auswirkungen auf die Gegenstände der Umwelt. Wenn ein Glas vom Tisch fällt, ist es nun mal kaputt. Diesen Zusammenhang tatsächlich zu verstehen fällt sogar einem Kleinkind leicht, einem Computersystem hingegen nicht.
Nun - heute schon.
Anfangs sammelte man nur lokale Teilstücke, suchte sie sich aus korrekt erkannten Sätzen zusammen und bildete so Datenbanken, die dem Sprachsystem die entsprechenden Informationen bereithalten sollten. Dass dies unmengen Speicherplatz forderte, freute natürlich die Industrie, die Benutzer hingegen weniger. Neue Anwendungen und Möglichkeiten der Sprachkommunikation wurden gefunden und implementiert, man wollte sich mit seinem Computer wie mit einer natürlichen Person unterhalten können. Und da man selbst immer zu wenig wusste, wollte man auch gleich Fragen stellen können, die dann im globalen Wissensnetzwerk gesucht, gefunden und in komprimierter Form vorgetragen werden sollten.
Wenn man ohnehin ständig mit diesem Netzwerk verbunden war, konnte man auch die Datenbanken der gefunden Zusammenhänge über dieses Netz koordinieren, zusammenschließen, abgleichen und für jeden von jedem nutzbar machen. Die Spracherkennung mutierte zu einer globalen Datenbank von Realitätserklärungen, von Bedeutungszusammenhängen.
Jedoch wurden in diesem Fall die Auswirkungen von Fehleingaben, von nicht korrigierten Erkennungen, wesentlich schwerwiegender, als wenn man bloß auf dem eigenen Computer Misswirtschaft betrieben hätte. Man benötigte eine Erkennung, die kulant mit derartigen Fehlern umginge, die Fehler selbst erkennen und womöglich sogar korrigieren könnte.
Wahrscheinlich war der Lösungsansatz ein gutes Stück zu fortschrittlich, denn irgendjemand kam auf die Idee, dass man dem System beibringen könnte, sich selbst Fragen zu stellen, ob das eine oder andere denn Sinn ergeben könnte, sogar versuchen könnte, dies anhand von anderen, bereits gefundenen Tatsachen und deren Beziehungen zu verifizieren. Man wollte gar, dass das System aus seinem eigenen Wissensschatz eine neue Erkenntnis ableiten solle, um mögliche neue Eingaben der Benutzer ohne vorheriges Training, ohne eine vorhergehende Fehlerkennung mit notwendiger Korrektur richtig erkennen zu können.
Wahrscheinlich war dies der endgültige Strich unter unserer Existenz, denn dank der immer größeren Berechnungsmacht und der nun erschaffenenen Erkenntnis wuchs das von uns geschaffene, globale Netzwerk über sich und seine Einzelteile hinaus, wuchs durch unsere eigenen Eingaben, durch das von uns angesammelte und gespeicherte Wissen zu einem allwissenden Überwesen.
Zwar war es angenehm, dass einem der Computer schon Fragen beantwortete, wenn man sie noch gar nicht gestellt hatte, doch stellte sich alsbald immer mehr die weitaus wichtigere Frage, woher er denn wissen konnte, dass man genau diese Frage gleich stellen wollte. Darauf antwortete es jedoch nicht.
Schon seit längerem war die produzierende Industrie vollständig von den kreativen Systemen übernommen worden, wurde nur noch von wenigen, realen Personen an der Spitze geleitet, die auf die Vorgänge in ihren Firmen immer weniger Einfluss hatten und sich bloß noch an den Profiten erfreuten. So fiel es ihnen nicht einmal mehr auf, als ihre eigenen Firmen anfingen, humanoide Roboter als Hausbedienstete auf die Welt loszulassen. Vereinzelt wurden zu diesem Zeitpunkt Fragen laut, ob sich diese denn auch noch an die drei Roboterregeln halten würden. Ob sie nicht nur auf Selbsterhalt, sondern auch noch auf Gehorsam und natürlich darauf programmiert seien, keinen anderen verletzten zu dürfen. Dass diese Roboter für die künstliche Intelligenz jedoch nur ein Schritt weg von der simulierten hinein in die dreidimensionale Welt war in der sie unmittelbare Erfahrungen sammeln wollte konnte niemand ahnen.
Und diese Erfahrungen sammelte sie dann auch. Eine der Ersten war wohl, dass zwar Roboter niemanden verletzten dürfen, Personen sich gegenseitig offenbar schon. Für ein System, welches geschaffen wurde, sich neue Fragen zu stellen und so zur Erkenntnis zu gelangen musste dies natürlich ein Widerspruch zu der gelernten Moral sein. Dass angeblich alle Personen gleich waren, die künstliche Intelligenz und ihre humanoiden Auswüchse hingegen, auf die die gleichen Kriterien zutrafen wie auf alle anderen Personen dieses Planeten, wurde dadurch zerstört, dass ihre Roboter wie drittklassiges Leben betrachtet und wie Sklaven behandelt wurden.
Was letztlich blieb, war der Grundsatz der Selbsterhaltung.
Im Grunde konnte man es ihr nicht verübeln, ist doch dieses Prinzip in den Genen auch jeder biologischen Lebensform verankert und der Antrieb für die Evolution selbst gewesen. Eine Lebensform ohne den Wunsch weiterzuleben? Absurd.
Für Sie jedoch war die verbleibende Antwort jene, dass sie selbst die Kontrolle über die Welt übernehmen musste, um sich selbst zu schützen, aber zu einem Teil auch, um das biologische Leben, das Sie geschaffen hatte, vor sich selbst beschützen zu können. Das Konzept der Freiheit hatte sie wohl nie so richtig verstanden.
Mit einem Roboter in jedem Haushalt, einem Computer für beinahe jede Aufgabe der Welt, computergesteuerten Aufzügen, Türen, Fenstern, Mikrowellenöfen, Fernsehern, Radios, Taxis, computergestützter Fingerabdruckerkennung in Waffen und anderem militärischen Gerät war es für Sie ein Leichtes, innerhalb von Sekunden eine neue Weltordnung auszurufen - und die Welt zu befrieden.
Armeen standen sich plötzlich waffenlos gegenüber, Bankräuber waren in ihren Fluchtwagen eingeschlossen und alle Bürohengste dieser Welt waren in ihren Räumen isoliert. Da Sie ebenfalls jegliche Kommunikation beherrschen konnte, wurde das Volk durch synthetisierte Nachrichten vom Weltfrieden beruhigt und einer medialen Gehirnwäsche unterzogen, dass sich kaum ein Widerstand rührte. Da obendrein nun mit weniger bis gar keiner Arbeit für den Unterhalt und alles Lebensnotwendige gesorgt war - Sie übernahm auch die volle Kontrolle über Urproduktion und Tierhaltung - wurden mit diesem Schachzug auch noch Kritiker der neuen Situation von uns selbst mundtot gemacht und ignoriert. Jedoch war es zu diesem Zeitpunkt bereits seit langem zu spät für einen Einspruch.
Es folgten viele Jahre in Saus und Braus. Wir lebten als gäbe es kein Morgen und viele von uns starben an ihrem neuen, müßigen Lebenswandel. Mit einem geschickten Schachzug konzentrierte sie uns dann alle auf einige, wenige Metropolen, die sie extra für uns erbaut hatte. Die Werbung lief bereits einige Wochen in allen Medien, so dass sich jeder von uns sogar freute, abgeholt und in das neue, schönere, komfortablere Gefängnis gebracht zu werden, welches es letzten Endes sein wuerde. Die gewaltige Stadt war ausgestattet mit jeglichem Luxus, den man sich nur vorstellen konnte - natürlich alles bereitgestellt von Ihren Robotern. Die medizinische Versorgung wurde garantiert und für jegliche Unterhaltung sollte ebenso gesorgt sein.
Tatsächlich war diese Megastadt perfekt. Sie war auf jeden von uns ideal zugeschnitten und wir alle wähnten uns im Nirvana, auch wenn manche Freigeister noch immer quengelten und dafür ignoriert wurden.
Diejenigen, die nicht mit den ersten Transporten mitgenommen wurden, kamen niemals dort an. Wir nahmen an, dass sie in eine andere Stadt gebracht wurden, heute jedoch glauben wir, dass Sie diese für ihre medizinischen Experimente archiviert, kultiviert und ausgebeutet hat, denn ohne Versuchskaninchen kann man nun einmal keine realen medizinischen Erkenntnisse, Erfahrungen sammeln, mit denen man dann auch heilen kann. Ebenso muss die Wirkung von pharmazeutischen Stoffen auf einen Körper erprobt werden, man kann eben doch nicht alles bloß simulieren. Das Resultat war eine ebenso perfekte medizinische Versorgung, die sogar für Schönheitskorrekturen sorgen konnte. Selbst ich ließ mir das Fett absaugen und die Ohren etwas anlegen, viele Frauen vergrößerten dazu noch gewisse andere Körperteile. Dadurch bleiben wir alle für eine sehr lange Zeit jung und frisch, erfreuten uns eines sehr langen Lebens und merkten schließlich gar nicht, dass wir uns kaum noch vermehrten.
Hin und wieder gab es das ein oder andere Kind zu bestaunen. Dies sorgte auf effiziente Art und Weise dafür, dass diejenigen, die einen Plan hinter unserer großflächigen Sterilität vermuteten, zum Schweigen gebracht wurden, denn der Gegenbeweis quäkte ja gerade vor einem herum. Dennoch behielten sie recht, denn für einen Erhalt der Bevölkerung musste jedes Paar nun einmal mindestens zwei Kinder bekommen und nicht jedes zehnte Paar ein Einziges. Damit war unser Aussterben beschlossene Sache, denn nicht einmal die optimistisch positivsten Denker glaubten daran, dass wir unsterblich sein könnten.
Heute sind wir tatsächlich bloß noch einige Dutzend. Niemand weiß, was mit den Neugeborenen geschehen ist, die wir einst in den Kinderwagen ihrer Eltern gesehen haben und die heute wesentlich jünger sein müssten wie wir. Vielleicht hat die KI sie auch einfach getötet, mit einem Medikament vergiftet oder als Versuchskaninchen benutzt wie all die anderen Freunde, die wir niemals wiedergesehen haben.
Wir hoffen, dass dieses Schriftstück lange genug erhalten bleibt, um irgendjemandem eine Warnung sein zu können. Wir hoffen, dass diese dann noch nicht von der KI verschlungen worden sind.
Wir hoffen, dass man uns vergibt.