Abel ist auch schuldig!
Kein erschlag Abel, soviel ist klar. Die Geschichte kennt wohl jeder.
Aber ist das wirklich die ganze Wahrheit? Ist Abel wirklich der Böse, der Ursprung allen Übels? Ist er der einzige Träger einer Todsünde am Anbeginn der Zeitrechnung?
Lassen wir uns erneut durch den Kopf gehen, was erst einmal oberflächlich geschehen ist.
Da war also Abel, der immer alles richtig gemacht hat, von Gott geliebt wurde und dessen Opferrauch steil gen Himmel stieg. Und dann war da sein Bruder, sein eigen Fleisch und Blut, der es eben nie so richtig gut hinbekommen hat, der immer in allem schlechter war als sein Bruder und dessen Opferrauch ebenfalls nur sehr schräg nach oben stieg, gewissermaßen vom Himmel abgewiesen wurde und der deshalb aus Neid und Hass seinen Bruder erschlug, tötete, ermordete.
Oberflächlich betrachtet ist natürlich Kein derjenige, welcher die Hand gegen seinen Bruder zum Tötungsakt erhoben hat. Oberflächlich hat Kein Abel ermordet. Genau genommen hat dieser ihn aber nur getötet, war derjenige, der ihm das Leben genommen hat. Die Grundlage dazu wurde andernorts gebildet.
Denn warum hat Kein seinen Bruder getötet? Warum hat er diesen gewaltigen Schritt getan nicht nur seinem Bruder eins auszuwischen, sondern ihn gleich umzubringen? Wie viel Wut muss denn ein Mensch auf einen anderen aufgestaut haben, damit er einen derartigen Gewaltakt begeht, dass er jemanden affektartig unkontrollierbar umbringt? Welchen Leidensweg muss dieser durchlaufen haben, damit er in einer Situation wiederfindet, die für ihn so ausweglos scheint, dass diese Tötung die einzige Lösung zu sein scheint?
Sein Bruder Abel war der von Gott geliebtere, seine Opfergaben kamen besser bei Gott an, seine Taten waren in jeder Hinsicht besser als die seines Bruders Kein. In einer Welt, in der einzig die Beziehung zu Gott von Wert scheint, in der das Leben für das Leben danach das große Ziel ist, musste sich Kein in der großen Verlierersituation eingefunden haben, in der Abel in den Himmel käme, er jedoch nicht. In einer Welt, in der der erste Platz belohnt wird und alle anderen zur Hölle fahren ist ein zweiter Platz nicht akzeptabel.
Abel hätte seinem Bruder Kein dabei so selbstverständlich zur Hand gehen können, hätte ihm helfen können seine Aufgaben ebenso gut erfüllen zu lernen, hätte ihm von seinem Erfolg ein Scheibchen abgeben können. Doch er wollte alles für sich alleine behalten, wollte seinem Bruder nicht helfen, wollte, ihn hinter sich wissend, die Ziellinie erreichen. Er nahm es als akzeptabel an, seinen Bruder der Verdammnis anheimzugeben, ihn dem Untergang zu weihen anstelle den ersten Platz mit ihm zu teilen, auf dass sie gemeinsam ins Himmelreich eingingen. Er wollte für seinen Bruder das Schlechte.
Auf der anderen Seite waren da natürlich noch die Eltern, Adam und Eva. Zwar hatten sie damals sicherlich genug damit zu tun, überhaupt am Leben zu bleiben, Nahrung zu besorgen, das tägliche Leben zu erhalten, aber hatten sie trotzdem genug Zeit, ihren Kindern von Gott zu erzählen und sie dazu zu bringen, diesem Opfergaben zu bereiten, von ihrem hart erarbeiteten Tagewerk einen Teil in Gottes Namen zu verbrennen, zu vernichten. Sie waren es auch, die das Szenario des erfolgreichen Brandopfers aufgestellt hatten, welches am Ende dann zu dieser Tragödie geführt hat. Und sie waren es, die nicht dafür gesorgt hatten, dass Abel besser für seinen Bruder da war, dass er nicht verstanden hatte, dass auch er für seinen Bruder da zu sein hätte, selbst wenn er der jüngere war. Sie haben die Handlungen der beiden entweder nicht wahrgenommen, sie also sträflich vernachlässigt, was sich dann in diese Gewalttat steigerte, oder aber die Handlungen der beiden als eine Art Wettbewerb hingestellt, bei dem Kein stets der Verlierer war und nach ihrem eigenem Weltbild auch in der Ewigkeit den Kürzeren ziehen würde.
Kein hat zwar die Waffe geführt, hat seinen Bruder getötet, aber ermordet hat er ihn sicher nicht. Zu einem Mord gehört eine Planung, gehört eine hinterhältige, böse Absicht. All dies fehlt in dieser Tat, denn einen Plan hatte Kein offensichtlich nicht, denn sonst hätte er seinen Bruder irgendwelchen wilden Tieren vorgeworfen, hätte ihn eine Klippe heruntergestoßen oder ertränkt und sich nachher irgendwie herausgeredet, wäre einfach ohne ihn nach Hause gekommen und hätte den Leichnam seine Eltern finden lassen - wenn überhaupt. Er hätte es wie einen Unfall aussehen lassen und seine Tat bestmöglich verschleiert und wäre damit mit ziemlicher Sicherheit auch durchgekommen, denn einen Gegenbeweis hätte niemand erbringen können, der einzige, mögliche Zeuge wäre Gott gewesen und dieser sprach ja nicht mehr zu seinen Verstoßenen. Andere Menschen hatte er noch nicht zu fürchten. Ebenso fehlt die böse Absicht, es fehlt die Bereicherung als langfristige Absicht. Natürlich wäre und war er Nutznießer seiner Tat, denn nun war ihm niemand mehr im Wege, war niemand mehr besser als er, aber war diese Ansicht doch extern doktriniert und trieb ihn vielmehr tief emotional motiviert in diese Affekthandlung. Irgendwann läuft auch dem friedlichsten Menschen einmal das Fass über und er erträgt keine weitere Demütigung mehr, wehrt sich in irgendeiner Weise. So war es weniger die Absicht des Sieges in einem Wettbewerb um die Erlösung sondern vielmehr die Flucht aus der täglichen Demütigung, die ihn dazu trieb, seinen Peiniger zu töten, der ihm stets Leid zugefügt hatte und den er trotz allem noch aufgetragenerweise als großer Bruder beschützen sollte.
Und einen weiteren Mitschuldigen ergibt die weitere Analyse ebenfalls, nämlich denjenigen, der das Ganze angerichtet hat, der die gesamte Situation erst ursprünglich zu verantworten hat, nämlich Gott selbst. Nicht nur, dass er als allwissendes, allmächtiges Wesen die Macht gehabt hätte, dieses Ereignis zu verhindern indem unmittelbar eingegriffen hätte, um Keins Hand noch im Schlag zu stoppen, sondern er hätte auch Maßnahmen ergreifen können, damit es erst gar nicht so weit kommen musste - er hätte gar nichts tun müssen. Liest man nämlich die Geschichte genauer, so wendet sich Gott selbst trotz aller Leistungen Keins von ihm ab und seinem Bruder zu. Gott hält ihm dann sogar noch vor, dass Kein enttäuscht den Kopf hängenlässt, und wirft ihm abermals Versagen vor. Gott schuf Kein höchstselbst so, dass er diesem Leistungsdruck nicht gewachsen war und nun hält Gott Kein dies als Defizit vor, obwohl es vielmehr sein eigenes Versagen war.
Kein hat sicherlich die ein oder andere Todsünde - Neid und Zorn - auf sich geladen, aber ebenso hat es Abel getan, nämlich Missgunst und Eitelkeit - und auch Adam und Eva waren nicht unschuldig, haben sich Trägheit und Ignoranz zu Schulden kommen lassen.
Und von all diesen Sündern sollen wir abstammen? Dann doch lieber die Affen.