1001 Worte...
... über Stress
Jeden Morgen das gleiche Spiel, Schon kurz nach der Station vor dem eigentlichen Ende der Reise stehen die Leute auf und rennen ans Ende des Zuges in Fahrtrichtung, damit sie auch bestimmt die ersten sind, die den Zug verlassen können.
Die Rede ist natürlich von dem morgendlichen Berufspendlerverkehr. Man kann es ja verstehen, wenn man auch arbeitet und seinen Arbeitstag dadurch definiert, dass er beginnt wenn man 'Eingestochen' hat und er endet, wenn man sich eben wieder derart abgemeldet hat. Damit ist die Zugfahrt als verlorene Zeit, bestenfalls verschwendete Zeit erkannt und gehasst. Wenn man aus der Wohnungstüre raus ist hat man also eine mehr oder weniger kurze Leidenszeit vor sich - manche verbringen sie schlafend, manche nutzen sie zum Zeitung lesen oder für Vorausarbeit - die erst endet, wenn man endgültig offiziell damit begonnen hat, wofür man die Reise überhaupt angefangen hat, die Arbeit eben, den Job.
Dies ist die eine Sichtweise, die eine Seite. Die andere mag vielleicht etwas studentischer, jedoch bei weitem erholsamer und auf lange Sicht gesünder - gesundheitlich gesehen - sein. Manche Studenten tun es der arbeitenden Bevölkerung gleich: sie haben einen Zug genommen der, wenn er denn mal pünktlich wäre, sie gerade rechtzeitig zum Beginn der Vorlesung an den Zielort bringen würde, allerdings nur wenn ihnen niemand im Weg steht. Sie rennen also genau wie die andere Volksgruppe im Zug nach vorne, machen sich Stress beim Aufstehen, beim Warten und beim Weiterrennen, denn die Anschlusssttrassenbahn wartet ja auch nicht. Und das alles, bloss um dann schnaufend in der Vorlesung zu sitzen und vor Atemnot die erste Stunde kaum etwas mitzubekommen. Viel anders dürfte es den sich abhetzenden Arbeitenden auch nicht gehen, nur dass diese schon für die erste Minute schnaufen am Arbeitsplatz bezahlt werden, wohingegen die entspannt schon drauflos arbeiten könnenden Nicht-Stresser vergleichsweise ihre Arbeitskraft verschenken.
Dabei könnte man gegebenenfalls einfach einen Zug früher fahren um die Eile zu vermeiden, um punenktlich zur Vorlesung oder seinem Termin zu kommen und somit schon in der ersten Minute der Vorlesung alles begreifen zu können. Naja, was für einen Studenten noch funktionieren mag, das wird einem Angestellten schier unbegreiflich wenn man ihm erklärt, dass er von seiner Freizeit auch nur eine Minute opfern sollte, bloss damit er entspannter an seinen im Grunde gehassten Arbeitsplatz ankommt, dann quasi Arbeitskraft und Arbeitszeit verschenkt. Man kann sogar dies noch nachvollziehen, wenn man zu erkennen versucht, dass er in gewisser Weise seine Freizeit opfert der Arbeit willen, dass er von seiner privaten Zeit, seiner eigentlichen Lebenszeit Studen abziehen würde, nur um es einem Arbeitgeber recht zu machen, nur weil der Aufwand des im Zug nach vorne Gehens, des etwas schneller Gehens ihm zu viel sei. So zu verstehen, dass die Zugfahrt, der Weg zu seinem Arbeitsplatz als notwendiges übel wahrgenommen wird.
Dabei erinnert mich genau dies immer wieder an diesen ungemein passenden Bahn-Werbespot. Gezeigt wurde in abwechselnder Ausschnittfolge ein am Notebook arbeitender im Zug und ein paar Hände am Steuer eines Kraftwagens. Der Abschlussatz traf es dabei auf den Punkt, der mit dem Blick auf das paar Hände dem Zuschauer vor Augen führte: "Totes Kapital!".
Was für ein Schock. Sogar für mich, denn damals fuhr ich noch annähernd täglich mit meinem Wagen zu meinem allmorgendlichen Ziel. Und wer lässt sich schon gerne sagen, dass er totes Kapital am Ende seiner oberen Extremitäten herumhängen hat. Im Wagen hat man keine andere Möglichkeit seine Hände zu benutzen als das Steuer fest zu halten. Im Zug hingegen hat man selbst wenn dieser voll besetzt ist und man sich kaum bewegen kann immernoch so viel Platz, dass man ein Buch lesen, in einer Zeitung blättern oder auch wie im Werbespot auf seinem Notebook etwas schreiben könnte. Genau so ist dieser Text entstanden. Völlig entspannt auf einem sitzplatz eines morgendlichen Berufspendlerzuges der deutschen Bahn AG - und es wird sicherlich nicht der letzte gewesen sein. Und ich weiss, dass ich sie sicherlich alle überleben werde, die Hektiker, die panischen nach vorne Renner, die Hetzer. Gut, ich habe vielleicht eine Stunde weniger geschlafen, habe vielleicht etwas Zeit verschenkt weil ich früher gefahren bin als ich gemusst hätte, bin in meinen Fahrtzeiten vielleicht nicht so flexibel wie andere mit dem Auto Fahrende, aber ich mache mir kein Problem daraus.
Während ich schon bei vielen in den Gesichtern lesen kann dass sie seit Jahren jeden Morgen schon knapp nach der hälfte der Fahrt das grosse Kribbeln bekommen bis es sie dann aus dem Sitz reisst, sie sich hektisch ihre Jacke überwerfen, ihre Aktentasche krallen und noch im Ankleiden begriffen gen Zielbahnhof strebend den Zug entlang poltern, sitze ich völlig entspannt auf meinem Platz und weiss, dass ich genau diese Leute in den allermeisten Fällen in der U-Bahn-Station oder der Strassenbahnhaltestelle wieder treffen werde. Denn sie sind zwar möglicherweise ein paar Sekunden vor mir aus dem Zug heraus gekommen, den Anschlusszug haben sie aber trotzdem verpasst oder sind auf dem Weg irgendwo im Personenstau steckengeblieben, der natürlich dennoch allmorgendlich stattfindet. Und während ich mir nicht nehmen lasse, sie dann beim Wiedersehen an der nächsten Haltestelle nett zu grüssen, ihnen noch einmal vorzuhalten, wie dämlich doch eigentlich ihre Hektik ist, mache ich mir meine Gedanken um deren körperlichen Zustand, denn Stress macht ja bekanntlich Magengeschwüre und Darmkrebs. So gesehen habe ich vielleicht im Moment weniger Freizeit, weil ich mehr Zeit auf Reisen bin, mehr Zeit im Zug verbringe der mich ja nur von heimatlichen Gefilden zu meinem Arbeitsplatz bringen soll, an dem die eigentliche Zeit erst zu laufen beginnt, jedoch werde ich weit mehr Zeit im Alter haben, denn ich werde es im Gegensatz zu all den Krebskandidaten erreichen.