1001 Worte - über Zeitzeugen
(Von Ingmar Hensler)
Jüngst schaute ich eine Fernsehdokumentation. Wieder einmal, wie so oft. Doch dieses Mal fiel mir eines auf, auf was ich eigentlich noch nie geachtet hatte - die Authentizität der aufgeführten Zeitzeugen.
Lange hatte ich keine Dokumentation mehr gesehen, die sich mit der jüngeren Vergangenheit des politischen Deutschland zu tun gehabt hatten, erst recht nicht mit dem Dritten Reich. Im Grunde hatte ich auch nur kurz hineingezappt, so dass es an ein Wunder grenzt, dass es mir überhaupt aufgefallen ist. Andererseits kann man gerade von dieser Tatsache ableiten, dass es schon arg auffällig gewesen war, was ich da zu sehen bekommen hatte - zumindest für mich war es das auch. Seitdem ist jedoch einige Zeit und damit auch einiges an Dokumentarfilmen vergangen und immer wieder ist mir der gleiche, fragwürdige Fakt aufgestoßen, der offenbar in der heutigen Medienlandschaft gang und gäbe zu sein scheint. Offensichtlich werden sogenannte Zeitzeugen, als was diese Personen in ihrem Laufband auf dem Bildschirm dargestellt werden, kaum auf ihren Wahrhaftigkeitsgehalt hin überprüft und einfach vorgeführt, um zumindest irgendjemanden in die Kamera halten zu können.
Doch in diesem ersten, von mir angemahnten Fall war es ganz besonders auffällig, wahrscheinlich, weil es so unnötig schien einen solch schlechten Schauspieler für diese Rolle zu benutzen. Nicht nur, dass er offenkundig keinerlei Ahnung von den besprochenen Vorfällen gehabt hatte und nur oberflächliches Gefasele abgelassen hatte, sondern er war auch noch in einem Alter, in dem man im Allgemeinen noch nicht im Altersheim ausstirbt, sondern auch im Café nebenan zu finden gewesen wäre. Wieso hatte man sich also nicht wirklich die Mühe gemacht, jemanden zu finden, der seinerzeit tatsächlich am Ort des betreffenden Geschehens gewesen war. Wenn man schon von einer Zeit berichtet, in der praktisch jeder andere Zuschauer ebenfalls da gewesen ist und sich noch wach genug daran erinnern kann, dann sollte man schon etwas vorweisen können, was für die Zielgruppe nicht gerade zum Allgemeinwissen zählt.
Und ein solcher Mensch wurde dann zum Zeitzeugen stilisiert.
Einmal davon abgesehen, dass damit jeder andere Mensch ebenfalls zum Zeitzeugen geworden ist und zwar für absolut alles, ist damit auch der Begriff Zeitzeuge selbst zur vollständigen Wertlosigkeit verkommen. Einst konnte man noch vorgeben, dass man beim Fall der Mauer dabei gewesen ist, dass man an der Mauer gestanden hat und mit einem Hammer ein Stückchen abgeschlagen hat, dadurch zum echten Zeitzeugen des wichtigsten Ereignisses unserer jüngeren Zeit geworden ist, aber jetzt ist auch dies nichts mehr Wert, ist man sogar ein Zeitzeuge der Mondlandung, des 9.11. und natürlich jeden anderen Ereignisses seit der eigenen Geburt.
Wenn dann irgendwann einmal ein Fernsehsender anruft und einen vor eine Kamera schleifen will, weil man ja ein Zeitzeuge von irgendwas sei, dann kann man sich immer noch das allernötigste zusammengooglen, kann schnell mal ne Zusammenfassung der wichtigsten Dinge im Geschichtsalmanach überfliegen und wird dann auf dem gleichen Niveau berichten können wie dieser Mensch in der von mir ertragenen Fernsehdokumentation. Und dafür bezahlen wir auch noch Gebühren. Qualitätsjournalismus eben.
Doch wenigstens sind wir alle Zeitzeugen. Jetzt, hier und überall sonst auch.