1001 Worte - Normalität in 50 Jahren

(Von Ingmar Hensler)

 

 

 

Immer wieder heißt es, dass es bei der heutigen, technologischen Entwicklung unmöglich sei, vorherzusagen, wie die Welt um uns herum in fünfzig oder hundert Jahren aussehen würde.

Wenn man sich ansieht, wie schnell sich alles entwickelt, so scheint dies vollkommen plausibel zu sein, tut sich doch bereits der Fachmann sehr schwer zu sehen, was in fünf Jahren kommen wird, wie etwa ein Telefon in ein paar Jahren aussehen könnte und was es noch alles vermögen wird. Schaut man wiederum ein paar Jahre zurück, kann man diese Selbstzweifel der Fachleute vollkommen verstehen. Noch vor wenigen Jahren waren gerade die Telefone recht klobige und vor allem dumme Dinge, mit denen man gerade einmal telefonieren konnte. Heute hingegen gibt es solche Geräte faktisch nicht mehr, während es zur Selbstverständlichkeit geworden ist, dass man das Gerät wie einen Kommunikator bei Startrek benutzen kann - zumindest aber eMail, eBanking, Navigation und Videospiele erhält, am besten noch immer informiert ist, wo seine engsten Kontakte gerade sind.

Allerdings sind andere Bereiche bei weitem nicht von derartiger Entwicklung geprägt. Wer vor fünfzig Jahren noch von fliegenden Autos und Atomantrieb gefaselt hatte, würde sicherlich enttäuscht sein. Ob man in fünfzig Jahren gebeamt wird und mit Fusionsenergie heizt, ist ebenso unsicher. Ob die Chinesen eine Mondkolonie gebaut haben oder ob die Inder ihnen zuvorgekommen sind, kann man ebenso wenig beurteilen.

Was man hingegen sagen kann, ist, dass es bisher stets so war, dass im großen und Ganzen, zumindest aber im Trend, das, was ein technologisches Luxusgut war und sich nur die besser Betuchten leisten konnten, im Laufe der Zeit zu einem für die breite Masse verfügbaren und dadurch auch weiter entwickelten Ge- ja manchmal gar Verbrauchsgegenstand geworden ist.

Als Beispiel diene hier wiederum das Mobiltelefon oder auch das Automobil.

Das Handy war einmal ein klobiges Etwas, das mitsamt einer riesigen Batterie, einem Hörer im normalen Telefonformat und vor allem einem großen Griff zum mit herum tragen daher kam. Entsprechend war es eher in Autos vorzufinden, weil es einfach zu Snobistische aussah, wenn man es mit ins Cafe nahm. Heute trägt, wie bereits angeführt, jeder ein derartiges Gerät in seiner Hosentasche mit sich herum und es gehört zur Normalität, damit im Cafe oder auf Parties zu hantieren.

Das Auto war in der Zeit der Pferdekutschen und Fahrräder nur von den Reichsten vorgeführt und wurde auf den Straßen bewundernd angestaunt, eher als Kuriosität betrachtet. Der Anlasser war eine Handkurbel an der Vorderseite und der Gedanke an ein automatisches Verdeck völlige Utopie. Heute muss man nicht einmal mehr einen Schlüssel in das Türschloss stecken, um es zu öffnen, Anlassen ist - wenn überhaupt - ein Knopf und verdunkelbares Glas ist bei Dächern hipp, selbstfahrende Autos gerade Realität geworden.

Der Computer, damals ein Büroprodukt, von dem es allenfalls „fünf oder sechs“

Einschätzung des damaligen IBM-Chefs

auf der Welt brauchte, ist heute nicht nur auf jedem Schreibtisch zu finden, sondern auch in jedem Fernseher zu finden, in jedem Kinderzimmer, auf jedem Wohnzimmertisch und natürlich in jeder Jackentasche in Form eines Mobiltelefons, von denen bereits die Kleinsten mehr Rechenleistung besitzen als alle fünf damaligen Großrechenanlagen zusammen.

Entsprechendes gilt für den verfügbaren Speicherplatz.

War anfangs noch ein Megabyte eine Größenordnung, die schier unendlich schien, so ist heute ein Terabyte recht schnell gefüllt. Die Verfügbarkeit aller möglicher Arten von Medien hat ihren Teil dazu beigetragen.

In diesem Zusammenhang sei auch die Verfügbarkeit von Medien hervorgehoben. War das Farbfernsehen selbst noch ähnlich selten wie das Automobil zuvor, so kann man heutzutage hochauflösendes Video selbst auf dem Handy an den entlegensten Orten der Welt schauen und sich die Fußballübertragung von daheim life und in 3D antun. Für Bücher muss man nicht mehr im Buchhandel recherchieren und bestellen, wenn es ein etwas ausgefalleneres Werk sein sollte, sondern man kann über dieses Internetz

„Gibt‘s diesen Unfug immer noch?“ - Homer Simpson

das Buch vor dem Kauf anlesen, kann es bezahlen und es sofort direkt auf sein Mobilgerät geschickt bekommen um es dort auf dem hochaufgelösten Bildschirm lesen zu können und zwar auf Geräten, die ganze Bibliotheken speichern können und die für die Anzeige einer Seite nicht einmal Energie verbrauchen.

Diese Liste ließe sich sicherlich noch lange fortführen, aber es ist wohl deutlich geworden, dass sich ein grober Trend aufzeigen lässt.

Natürlich muss auch genannt sein, dass es sehr wohn kurzfristige Trends gibt bei Dingen, die nach den zuvor genannten Kriterien als Luxusprodukte gelten sollten. So jüngst geschehen bei Fernsehern mit ihren 3D-Fähigkeiten und den dafür nötigen Brillen. Zwar kann jeder heutige Fernseher derartige Filme in dieser Art wiedergeben, aber einen Kaufgrund stellt das ebenso wenig dar wie eine Nutzung, wird also aller Wahrscheinlichkeit nach als Randerscheinung verstummen. Wichtig scheint also auch die Dauer des Marktverbleibs eines Luxusgutes zu sein, um eine Relevanz wahrhaft beurteilen zu können.

Ein Zeitraum von fünfzig Jahren ist trotz allem Optimismus sehr viel, bedenkt man, dass die Nutzung der Kernenergie, war sie vor fünfzig Jahren noch der Allheilsbringer, vor ein paar Jahren erst einen gehörigen - überfälligen - Dämpfer erhalten hat und nun ihrer Beendigung entgegen sieht, ersetzt in nah und fern nicht nur durch erneuerbare Energien, sondern auch durch dezentrale Energieversorgungen bis hin zu Privatleuten mit eigenen Kleinkraftwerken in Form von Solarzellen auf dem Dach.

Doch wie kann man überhaupt eine Prognose abgeben, die sich derart langfristig in die Zukunft erstreckt. Bereits die Sicht auf die Vergangenheit hat ja offenbart, dass es sich hier durchaus auch auf politischer Ebene lohnt, Betrachtungen anzustellen. So war sicherlich die Kernenergie nicht aus wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen, ja nicht einmal aus rationalen Gründen abgeschaltet worden, sondern bloß aufgrund eines zufälligen Ereignisses mit rein zufälligen Folgen und der Tatsache, dass sich ausgerechnet bei diesem einen Unfall unter vielen die Aufmerksamkeit in den Medien groß genug war, dass sie auch breitflächig in die Bevölkerung übergehen konnte, um die Politik dazu zu bringen aus Machterhaltungsgründen diese populistische Maßnahme zu ergreifen.

Bei einer derart großen Rolle von medialer Meinungsmache und politischer Kumpanei kann man kaum damit rechnen, dass die wichtigsten Dinge der Welt, die relevantesten und zwingendsten Entwicklungen tatsächlich Realität würden, eine Prognose für die großen Dinge der Welt also in der Tat größeren Verzögerungen als bloß fünfzig Jahren unterliegt. Die Fusionsenergie ist hier wohl das beste Beispiel, das nicht nur aus wissenschaftlichen Gründen ausgesprochen langfristig angelegt ist, sondern selbst im Falle eines baldigen Erfolgs erst einmal von der Politik anerkannt, realisiert und von einer Wirtschaft aufgenommen werden müsste, die den Unterdrückungsversuchen der etablierten Energieriesen Paroli zu bieten vermag. Das sind gleich eine ganze Menge Vielleichts, die einen positiven Erfolg im Zeitraum von fünfzig Jahren gerne einmal auf die doppelte Zeitspanne streckt.

Es werden wohl die Randgruppenspielereien sein, für die man überhaupt nur etwas behaupten kann. So sind nicht nur zu diesem Zeitpunkt, sondern bereits seit einigen Jahren 3D-Drucker für jedermann für kleines Geld zu erwerben. Und die Dinger werden sogar immer billiger und/oder leistungsfähiger, werden immer mehr Druckverfahren erschwinglicher und miniaturisiert. Was früher eine industrielle Anlage im Preisbereich eines Reihenhauses und der Größenordnung eines Kleinwagens war, passt heute auf jeden Schreibtisch und kostet nicht einmal mehr eine vierstellige Summe - je nach Druckverfahren. Waren es anfangs nur simple Plastikobjekte, die man aus einem Material in einer Farbe gerastert aus einem faden Plastik drucken konnte, so ist es heute bereits möglich komplexere Sinterverfahren zu verwenden, bei denen gar Elektromotoren fertig benutzbar aus dem Drucker kommen können. All das ist trotz allem noch verbesserungswürdig und noch immer in einem Preisbereich, für den man ein solches Gerät nicht als Spielzeug zum Herumprobieren kaufen würde, aber ein Anfang ist mit Sicherheit gemacht.

Ein ebenso erstaunlicher Anfang ist einmal mehr im Bereich der 3D-Brillen getan. Nachdem alle Technologien verfügbar sind, um eine maximalimmersive Brille zu einem minimalen, erschwinglichen Preis zu bauen, hat sich tatsächlich eine Entwicklergröße diesem Thema angenommen und mit großem Medien- und Erwartungsecho den ersten Prototypen vorgestellt. Noch vor wenigen Jahren konnte ich auf der CeBIT weit weniger eindrucksvolle Brillen ausprobieren, und diese Dinger lagen einmal mehr im Preisbereich eines Kleinwagens. Kaum verwunderlich, dass der Massenmarkt von derlei Spielereien verschont blieb. Aber in der langen Frist gesehen wird diesem Produkt wohl ein weit größerer Erfolg beschert sein als etwa einem Holodeck, welches in der Form eines FPS-Immersionsmaximierers[3] bereits existiert, aber schlicht zu groß ist, als dass man sich so etwas im Wohnzimmer aufbauen würde - und mit aktiven Schussanlagen auch zu gefährlich um jemals eine Zulassung zu bekommen. Gerade die Größe und das Feedback wird es dieser Technologie schwer machen, im Privatgebrauch Fuß zu fassen - in Spielhallen mit „Auf eigene Gefahr“-Warnungen könnte das jedoch extrem interessant werden.

Dass Handies immer mehr können werden, dazu braucht es sicherlich kein Genie. Ob sie hingegen immer kleiner werden, wie es im vorigen Jahrtausend war, oder ob sie immer größer werden und eher zu Tablets, also den mittlerweile sogenannten Phablets, mutieren, das wird sich wahrscheinlich nie entscheiden und bei einem Marktvolumen von potentiell fünf Milliarden Geräten ist sicherlich Platz für alle. Ob es Apple oder Microsoft sein wird, die hier den Markt beherrschend beeinflussen ist da schon eher offensichtlich: keiner von beiden, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Ob es dahingehend Google noch gibt, ist da schon die interessantere Frage, ist es doch das jüngere der Technologieunternehmen. Qualcom und Samsung werden schon irgendwas produzieren, und wenn es Spielkarten

Das erste Produkt von Nintendo waren handgemalte Spielkarten.

sind, ebenso Intel. Das Linux seinen Weg auf die Desktops finden wird, wird wohl hingegen immer wahrscheinlicher, da nicht nur immer mehr Leute von Windows angewidert sind und sich nach Alternativen umschauen, sondern auch weil es immer mehr Spiele auch für Linux gibt, was auch für Windows95 seinerzeit den endgültigen Durchbruch darstellte.

Linux läuft ja bereits heute auf praktisch jedem Großrechner, auf mindestens jedem zweiten Mobiltelefon und bald auch auf der einen oder anderen Spielkonsole. Autos und Flugzeuge, Satelliten und extraterrestrische Erkundungsroboter, Legospielzeug und Uhren befeuert Linux ja auch bereits. Ob allerdings ein mögliches Ableben von Linus Torvalds selbst diese Entwicklung gefährden könnte, ist hingegen schwerer zu bewerten - eher nicht.

Just brachte Google das selbstfahrende Auto zur Marktreife, das bereits in Amerika zumindest für schwerst behinderte Menschen zur Verfügung steht und ausgezeichnet zu funktionieren scheint. Viele tausend unfallfreie Kilometer haben diese Fahrzeuge bereits hinter sich gebracht. Solange niemand auf die Idee kommt, die Navigationssoftware von Apple zu benutzen wird das wohl auch so bleiben. Auf jeden Fall ist es nur noch eine Frage von einem Jahrzehnt, bis diese Technologie in Oberklasseautos Einzug halten wird, genau wie die Halterungen für TabletPCs, Mobiltelefone, Navigationsgeräte oder Mp3-Player zuvor.

Das Fernsehen wird wohl tatsächlich bloß immer größer werden, nicht aber an technologischen Features wie 3D oder Holographie gewinnen - diese Versuche sind bisher immer kläglich im Sande verlaufen. Waren vor einer oder zwei Dekaden ja noch Beamer der letzte Schrei für Filmliebhaber, so hat sich im Zuge einer Bildgrößenangleichung der Fernseher selbst auf die vierfache Größe seiner Röhrenkollegen gemausert. Kostet heute ein derartiger Flachbildfernseher in der Größe einer Schrankwand noch so viel wie ein Mittelklassewagen ist zu erwarten, dass hier Preis und Technologie die Grenzen weiter aufweichen. Biegbare Displays zum Ausrollen, Flachbildschirme mit biologischer Beleuchtung in der Dicke eines Blattes Papier zum Aufkleben auf die Wand - man wird sich wohl den Fernseher irgendwohin tapezieren können.

Hingegen völlig im Fluss ist der Kampf von Technologie gegen urheberrechtliche Einschränkungen. Wäre es kein Problem, seine Videosammlung in der Cloud zu lagern, sie immer und überall auf Abruf bereitzuhaben, so wird sich sicherlich irgendwo ein angeblicher Rechteinhaber finden, der sein Produkt mit irgendeinem Mechanismus versehen haben möchte, der genau das verhindern soll und der nicht umgangen werden darf, so trivial das technisch auch wäre. Der Gesetzgeben tut sein Übriges für die Behinderung des technologischen Fortschritts und für die Beibehaltung des gestrigen Status quo auf Kosten des gesunden Menschenverstandes.

In der Küche wird sich wohl gar nichts ändern - bestenfalls in winzigen Details. Den Backofen gab es auch vor fünfzig Jahren bereits und es wird ihn auch in fünfzig Jahren noch geben, wird aber wohl mit STIR-Beschichtungen versehen sein, also zusätzlich zu Umluft auch mit Infrarotstrahlung arbeiten können, wie es bei Profigeräten bereits der Fall ist. Ein Heißwasserhahn könnte dazukommen, der kochend heißes Wasser unverzüglich von sich gibt. Geschirrbeschichtungen, wie sie bei Pfannen oder Töpfen mittlerweile alltäglich sind, will wohl niemand wirklich bei Tellern oder Gabeln. Natürlich wird alles effizienter arbeiten, wird noch weniger Strom verbrauchen als bisher bereits und von sich aus noch sauberer sein, wie es der Transfer zu Ceranfeldern, Arbeitsplatten und Mikrowellengeräten bereits vorgemacht hat.

Trotz allem fundierten Tassensatzlesen wird aber wohl weitaus interessanter werden, wie sich die Gesellschaft in dieser Zeit entwickeln wird. Die Bevölkerungsschichten driften immer weiter auseinander und dennoch ist es wie der Frosch im Kochtopf, dessen Wasser nur langsam und unmerklich heißer wird und er dann, wenn das Wasser zu heiß geworden ist, nicht mehr herausspringen kann. Die Veränderung des Klimas wird wohl Machtverhältnisse neu zu mischen beginnen und der Kampf der vermeintlichen Rechteinhaber gegen jene, die alles Wissen frei sehen wollen, ist im Moment völlig offen.

Es wird auf jeden Fall weiterhin spannend bleiben und ich bin sehr froh, dass ich in dieser Zeit leben kann, die trotz allem hierzulande derart vom Frieden und Wohlstand geprägt ist.