1001 Worte über die Lehre vom Hans guck in die Luft
(Von Ingmar Hensler)
„Wenn der Hans zur Schule ging,
Stets sein Blick am Himmel hing.
Nach den Dächern, Wolken, Schwalben
Schaut er aufwärts allenthalben:
vor die eignen Füße dicht,
Ja, da sah der Bursche nicht,
Also dass ein jeder ruft:
„Seht den Hans Guck-in-die-Luft !“
Kam ein Hund daher gerannt;
Hänslein blickte unverwandt
in die Luft.
Niemand ruft:
„Hans gib acht, der Hund ist nah!“
Was geschah?
Pauz ! Perdauz ! - da liegen zwei!
Hund und Hänschen nebenbei.
Einst ging er an Ufers Rand
Mit der Mappe in der Hand.
Nach dem blauen Himmel hoch
Sah er, wo die Schwalbe flog,
Also dass er kerzengrad
Immer mehr zum Flusse trat.
Und die Fischlein in der reih‘
Sind erstaunt sehr, alle drei.
Noch ein Schritt! Und plumps! Der Hans
Stürzt hinab kopfüber ganz! -
Die drei Fischlein, sehr erschreckt,
haben sich sogleich versteckt.
Doch zum Glück da kommen zwei
Männer aus der Näh‘ herbei,
Und sie haben ihn mit Stangen
Aus dem Wasser aufgefangen.
Seht! Nun steht er triefend nass!
Ei! Das ist ein schlechter Spaß!
Wasser läuft dem armen Wicht
Aus den Haaren ins Gesicht,
Aus den Kleidern, von den Armen;
Und es friert ihn zum Erbarmen.
Doch die Fischlein alle drei,
Schwimmen hurtig gleich herbei;
Strecken‘s Köpflein aus der Flut,
Lachen, dass man‘s hören tut,
Lachen fort noch lange Zeit;
Und die Mappe schwimmt schon weit.“
„... und deshalb, sei kein Hans guck in die Luft!“, sagt die Oma dem Kleinen, der sich wie schon ich selbst seinerzeit fragt, wieso man so doof sein kann und ständig nur nach oben schauen kann. Natürlich versteht er die Geschichte ebenso wenig wie andere Kinder ihre Lehren aus Wilhelm Busch Geschichten ziehen. Und wenn schon die Erwachsenen die Geschichten eigentlich nie so richtig verstanden haben, ist die Motivation, ihnen von der Moral der Geschichte so zu erzählen, dass sie es auch verstehen, dass ihnen der Sinn der Geschichte etwas sagt und es nicht nur eine unterhaltsame Gutenachtgeschichte bleibt.
Denn, mal im Ernst, die Wahrheit bleibt doch dabei in unserer Zeit völlig auf der Strecke.
Eigentlich sollte es ja bedeuten, dass der kleine Hans seine Nase ständig so weit über alles andere erhebt, dabei natürlich - wenn überhaupt - auf andere und anderes herabblickt, dass er den Boden unter seinen eigenen Füßen nicht mehr sieht und schließlich an seiner eigenen Hochnäsigkeit stirbt.
Aber entspricht das wirklich der Realität so, wie sie sich uns darstellt? Geschieht dies wirklich mit den Leuten, die immer nur auf einen herabsehen, die glauben, über den anderen zu stehen? Gehen solche Leute tatsächlich immer unter?
Auch ich kenne einige Beispiele, in denen die Jungs, die sich immer schon für besonders wichtig gehalten haben, immer schon zu fein waren mit einem zu reden oder gar nur auch nur zu grüßen, dann auch wichtig geworden sind. Solche, die meistens delegiert haben, die die Arbeit vor allem verteilt haben, Anweisungen gegeben haben und wenn überhaupt organisatorisch gearbeitet haben, den Überblick hatten, wurden auch im Berufsleben in diesem Feld tätig.
Den Hans kann man dabei auch etwas anders sehen, nämlich dass er im Gegensatz zu den anderen Kindern die großen Ziele vor Augen hat, die Sterne an seinem Himmel sieht und sich nicht von den kleinen Hindernissen auf dem Boden vor ihm betrachtet, sich von diesen womöglich aufhalten lässt und aufgrund seines weiten Schrittes stets über diese hinwegzusteigen vermag.
Nach dieser Sichtweise ist es also sogar eine Erfolgsgeschichte, die da begonnen wird - teilweise.
Natürlich ist es nicht nett, wenn man über andere hinweggeht und moralisch ist es ebenfalls verwerflich, die Nase so weit über anderen zu tragen und auf sie herab zu sehen. Und was du nicht willst, dass man dir tut, das füge auch keinem anderen zu. Doch spätestens beim ersten Kindergartenbesuch wird dies falsifiziert.
Nimmt man die Geschichte noch weiter auseinander, so fällt allzu schnell auf, dass dort auch Andere stehen und über das Leid des jungen Hans lachen. Sie stehen dort still und lachen über ihr, lachen ihn aus und erfreuen sich in Schadenfreude an seinem Elend. Verurteilt wird dieses Verhalten nicht, bloß dem kleinen Hans hätte eben nicht solches Unheil geschehen dürfen, dann hätte er auch nicht die Demütigung durch Andere ertragen müssen. Dass es jemals eine Zeit gegeben hat, in welcher es gesellschaftlich in Ordnung war so zu handeln, spricht schon Bände.
Ausgehend von dieser Sichtweise kann man also sicherlich nicht sagen, dass die Geschichte vom Hans-Guck-in-die-Luft mit ihrer vorgegebenen Moral eine so vorteilhafte Lehre für unsere lieben Kleinen darstellt. Sie ist sicherlich moralisch und im Herzen gut, aber so stellt sich die Welt nun einmal nicht dar. Die Welt ist nicht im Grunde gut, die moralisch handelnden Menschen bleiben nun einmal meist auf der Strecke und das Gute im Menschen dabei eben auch.