1001 Worte - der Niedergang einer Handwerkszunft

(von Ingmar Hensler)

 

 

Früher war ja bekanntlich alles besser - sagen die meisten. Oder war früher nicht einfach bloß alles … früher?

Das Brot hat angeblich früher besser geschmeckt, sagen vor allem diejenigen, die ihres heutzutage bloß noch beim Lebensmitteldiscounter kaufen, anstelle zu einem vernünftigen Bäcker zu gehen. Wer natürlich bloß Minderwertiges kauft, braucht sich nicht zu wundern über das, was er bekommt.

Doch wie kam es eigentlich dazu, dass der “vernünftige” Bäcker derart auf dem Rückzug ist, dass selbst das Landgericht Hamburg eine Bäckerei bloß noch als Verkaufsstelle für Gebäcke definiert, ohne dass eine Backstube in irgendeiner Form angeschlossen sein müsste? So ist jedenfalls der allgemeine Wortgebrauch, das Verständnis eines Bäckerladens, der jedoch natürlich auch auf den Lebensmitteldiscounter zutrifft, der zu allem Überfluss heutzutage teilweise sogar eine Backstube zu bieten hat, in der man zuschauen kann, wie die Brötchen gerade frisch gebacken werden, teilweise sogar inklusive der Teigbereitung und Aufarbeitung. Eine absolut starke Konkurrenz zu den Großfilialisten, in deren Filialen im Endeffekt auch bloß noch tiefgekühlte Teiglinge aufgebacken werden - wo auch immer diese ursprünglich einmal herkamen.

Aber wie kam es eigentlich dazu, dass diese Filialitis dermaßen um sich greifen konnte? Wieso gab es einmal einen solchen Verdrängungswettbewerb im Handwerk, dass der kleine Bäcker um die Ecke so zum aussterbenden Beruf gehört, dass es offenkundig auch kein zurück mehr zum guten, alten Handwerk mehr gibt?

Ausgehend von der Situation, dass es in jedem Dorf mindestens einen Bäcker gab, der sein lokales Monopol hatte und durch die lokal lebende und arbeitende Bevölkerung auch sein sicheres Auskommen hatte, sind mehrere gründe für eine Situationsveränderung denkbar. In größeren Orten oder Städten hingegen, in denen sich die Bäcker gleich tummelten, wie heutzutage Handyläden oder Frisöre, sich die Bevölkerung eine Bäckerei ihres Vertrauens aussuchen konnte, kommen gleich noch ein paar mehr Gründe hinzu.

Der nach wie vor gern genannte und nicht weniger gut belegbare, begründete und vor allem wahre Grund ist sicherlich das Nachfolgeproblem. Eine Bäckerei, die inhabergeführt im eigenen Haus als Familienbetrieb ihr Auskommen hat, funktioniert nicht unbedingt, wenn man voll zu bezahlende Angestellte in Verkauf und Produktion und obendrein noch doppelte Mieten - für Verkaufs-/Produktionsräume und private Miete für die Wohnunterkunft - zu bezahlen hat. Der von Altmeistern gern gebrachte Satz “Der braucht nur zu kommen, seine Kappe an den Haken zu hängen und kann anfangen” ist eben so einfach dann doch nicht. Und selbst wenn, dann hat der Altmeister das eigene Problem der Zugewinnversteuerung nicht bedacht, denn meistens ist das Betriebskapital nach der Geschäftsaufgabe dann als Privatkapital zu versteuern - das wird teuer bis ruinös.

Den Landbäcker hätten wir damit schon einmal fast eliminiert. Weiterer Punkt ist nämlich noch der Filialbäcker, der im selben Dorf eine Filiale - womöglich gar in leicht besserer Lage, an der befahreneren Hauptstraße, um die Pendler abzugreifen oder schlicht sichtbarer für die Neuzugezogenen - aufmacht, wahrscheinlich erst einmal sogar billiger ist und das alles in einigermaßen vergleichbarer Qualität bieten kann, denn der Konkurrenz nicht kennende Stammbäcker musste sich einer solchen bisher in keinster Weise stellen. Zusammen mit der Supermarkteritis, nämlich dem ¨da nehmen wir auch gleich noch Brot mit¨ im Supermarkt bzw. Lebensmitteldiscounter, ist damit der Markt, der Umsatz, der Lebensunterhalt weggebrochen ohne die Chance, das Ruder irgendwie noch einmal herumreißen zu können. Zu spät ist nun einmal zu spät.

Was auf dem Land schiefgeht, geht natürlich auch gerne mal in der Stadt schief, zuzüglich größerer Bauvorhaben der Stadt selbst. Wenn die Durchgangsstraße auf einmal beruhigt werden soll und damit der fließende Kundenverkehr, der Berufspendler, wegfällt, wenn man eine Dauerbaustelle direkt vor der Eingangstür hat und die Kunden damit den Zugang im wahrsten Sinne des Wortes erschwert bekommen, dann mag das natürlich höhere Gewalt sein. Der Filialbäcker mit der besseren Lage, der auch einfach mal schnell woanders hinziehen kann oder sich einen Verkaufscontainer vor die Tür stellen kann, profitiert davon natürlich und hat mit derartigem Weitblick die größeren Erfahrungen, mit der größeren Kapitaldecke die vielfältigeren Möglichkeiten. Wenn dann zu allem Überfluss bei dem Kleinbäcker auch noch Qualität oder Verkaufspersonal nicht in Ordnung ist, ist das Schicksal des nächsten Bäckers besiegelt.

Wer übrig bleibt, sind die Bäcker, die bereits in guter Lage geboren wurden, denen die Stadtväter selbst eine zentrale Fußgängerzone vor die Tür gebaut hat oder die sonst irgendwie ihre Marktnische gefunden haben und sich in eben dieser keine allzu großen Schnitzer erlauben.

Doch wie kommt es überhaupt zum ersten Auftreten der Filialisten, wie entstand ein solcher in der Vorzeit?

Kapitalistisch gesehen ist es die Konsequenz aus technologisch implizierter Effizienzsteigerung. Ein Bäcker in einer Stadt hat eine Backstube und stellt fest, dass er mit nur geringfügig mehr Zeit- oder Arbeitsaufwand das doppelte an Brötchen backen könnte. Die Maschinen geben es her und der Backofen kann auch eine halbe Stunde früher eingeschaltet werden, logistisch ist auch noch etwas Platz um die Gebäcke abzulegen und ein Backblech kostet auch nicht die Welt. Man teilt sich die Bevölkerung als Kunden mit seinen Mitbewerbern. Wenn man nun einen weiteren Laden aufmachen würde, so könnte man folglich einen entsprechenden Teil der Kunden mehr abschöpfen. Wenn es vorher drei Bäckereien waren, so steigt durch die eine Mehrfiliale der eigene Marktanteil von einem Drittel auf die Hälfte! Mit einer Weiteren wäre man schon bei sechzig Prozent, während den Anderen entsprechend Umsatz ausbleibt. Alles Weitere ist SunTzu. Durch den größeren Umsatz bei gleichen Fixkosten in der Backstube kann man die Preise senken und damit die Konkurrenten noch mehr unter Druck setzen, bis man schließlich das lokale Monopol übernommen hat. Nun könnte man sagen, dass der Rest Geschichte sei, denn diese Marktmacht auf andere Orte auszudehnen ist nur logischer, nächster Schritt auf dem Weg in eine Größenordnung, in der man mit seinen Zulieferern über Rabatte verhandeln kann oder diese gleich komplett übernimmt.

Jenseits der Gier nach mehr Marktanteil konnte aber auch schlicht die Notwendigkeit einer weiteren Verkaufsstelle sein, die durch eben eine Dauerbaustelle vor dem Hauptgeschäft oder einer tiefgreifenden Verkehrsänderung vor der Haustür zu seinen Ungunsten zu begründen ist. Wer hier weitsichtig genug war, konnte natürlich durch diese Ausweitung beziehungsweise Verlagerung der Geschäftstätigkeit einer Katastrophe entgehen und obendrein einen ersten Schritt zur Externalisierung des Verkaufsgeschäfts. Von dieser Position dann noch eine weitere Filiale zu eröffnen war da kein Mehraufwand, sondern ebenfalls wieder schlicht logische Folge der eigenen Situation und ihrer Notwendigkeit.

Das alles ist nicht neu. Schon Ford hatte die Produktionslinie irgendwann so weit in der Hand, dass auf der einen Seite der Fabrik Schiffe mit Eisenerz ankamen und auf der anderen Seite fertige Autos herausfuhren, er sogar eine eigene Kolonie in Afrika errichtete, um für den Kautschuk für seine Reifen zu sorgen. Dass dieses Konzept und auch diese Größe erreichbar sind und zu einigem Wohlstand führen kann hat im Bäckerhandwerk nicht nur Heiner Kamps vorgemacht.

Was hingegen in jüngerer Zeit neu ist, ist die Konkurrenz, die den Großfilialisten regelrecht schlagartig herangehuscht ist, während diese noch damit beschäftigt waren, sich gegenseitig zu fressen. Gemeint sind natürlich die großen Lebensmitteldiscounter, für die die Ausweitung der eigenen Produktpalette auf Gebäcke als logischer Schritt erschien, um die eigene Stellung gegenüber ihren eigenen Konkurrenten auf ihrem eigenen Marktsegment zu verbessern. So ist Lidl beispielsweise einem Aldi ganz gehörig auf den Fersen und hat obendrein auch noch das qualitativ bessere Backkonzept zu bieten.

Aldi hat in ihren Filialen einen Backautomaten, aus dem auf Knopfdruck warmes Gebäck freigegeben wird. Der Kunde, der nie irgendwie einmal erfahren hat, wie Brot, Brötchen oder Laugenbrezel tatsächlich hergestellt werden, nimmt dies als frisches Gebäck gerne an. Dass im Innern des Automaten nichts anderes steckt als eine Warmhalteschleife, in der tiefgefrorene Teiglinge erst aufgebacken und dann warmgehalten werden, bis sie durch Knopfdruck gekauft werden - was beliebig lange dauern kann - interessiert ihn nicht mehr, er weiß es ja ohnehin nicht besser und es schmeckt zu allem Überfluss auch nicht so viel schlechter als in der Filialbäckerei, die er bereits kennt.

Lidl setzt hier sogar noch einen drauf und baut in seinen Geschäften gleich eine halbe Bäckerei auf. Sie haben ein Kühlhaus, in dem sie die Teiglinge lagern, einen Gärschrank zum Auftauen und einen entsprechenden Backofen - Stikkenofen - in dem das Ganze dann fertiggebacken wird, bevor es frisch und warm in die Selbstbedienungskisten geschüttet wird. Selbst, wenn der Filialbäcker ganz modern war und in der Filiale selbst gebacken hat, ist der Preisunterschied für den Endkunden spätestens hier nicht mehr zu rechtfertigen. Denn am Ende ist der Geschmack und die Qualität eben doch für den Kunden nicht mehr zu unterscheiden.

Auch hier liegt der Hase im Pfeffer, denn eine Filialbäckerei produziert nun einmal vollkommen anders, als eine Kleinbäckerei mit einer direkt angeschlossenen Backstube. Es sind Lieferwege zu überbrücken, es muss womöglich etwas gekühlt werden, gefrostet möglicherweise, und zwar so, dass es in der Filiale fürs Personal verarbeitbar ankommt. Und das alles möglichst gleichzeitig, denn Lieferwege kosten natürlich auch Geld - Brot und Brötchen also gleichzeitig. Hierfür sind die ersten Kompromisse notwendig sowohl in den Herstellungsmethoden als auch bei den Zutaten. Die notwendige Maschinisierung erzwingt die Nächsten, denn der Teig muss ja durch die Maschinen, über die Fließbänder, auf die Bleche finden, ohne zu verkleben oder währenddessen zu weit getrieben zu sein. Wenn die gefrosteten Teiglinge dann fertig waren und es in die Filiale geschafft hatten, mussten sie auch in ähnlicher Qualität auftau- und backbar sein, so dass am Ende ein Brötchen herauskommt, für das man sich noch trauen konnte, Geld zu verlangen.

Was der Kunde jedoch am Ende gesehen hat, ist der fertige Teigling, der in der Filiale in einen Umluftofen geschoben wird, damit er ein warmes Brötchen in der Tüte heimtragen konnte. Genau das bietet Lidl mit seinem Konzept ebenfalls. Dass bei all den Kompromissen und den daher auch immer gleichen Lösungen, also Spezialzutaten, der Geschmack jedoch beliebig, austauschbar, flach und ebenso hohl geworden ist wie das Gebäck selbst, fliegt den Filialisten nun selbst entgegen, denn mit Geschmack können sie nun nicht mehr punkten, das Argument der handwerklichen Qualität selbst nicht mehr vorbringen. Nicht, dass das womöglich sogar korrekt wäre, sondern, dass es die Kunden einfach nicht mehr interessiert.

Jahrzehntelang wurden die Menschen dazu erzogen, das Filialbrötchen als den Schluss der Dinge zu akzeptieren, die Filiale selbst als den Inbegriff der Bäckerei zu verstehen. Der heute als kuriose Ausnahme geltende Kleinbäcker mit angeschlossener Backstube ist in den Köpfen der Menschen nicht mehr existent, ein Bäcker ist eben eine Brötchenverkaufsstelle - so urteilt auch das OLG Hamburg in einer Musterklage nach dem aktuellen Verständnis der Menschen. Diese Umerziehung der Kunden schlägt nun nach hinten zurück, denn eine Brötchenverkaufsstelle ist eben auch Aldi und Lidl und deren Argument findet sich ganz schnell im Portemonnaie der Kunden wieder, die den guten Geschmack eines handwerklichen Brötchens nicht einmal mehr kennen.

Ironie des Schicksals: Die Ausweglösung der Filialisten ist aktuell die Erweiterung der reinen Verkaufsstellen um ein Café mit Sitzplätzen, Bewirtung etc. sowie dem Backen, aber eben auch dem Aufarbeiten an Ort und Stelle mitsamt Snackgebäcken, Salaten usw., was ebenfalls und sogar noch weit mehr kostenintensiv ist, weil nicht nur Personal, sondern eben auch Backofen und mindestens ein Bäcker gebraucht wird, weil eine handwerkliche Teigaufarbeitung nicht mehr von einer Verkäuferin geleistet werden kann. Das Handwerk selbst zieht also doch wieder in den Filialen ein, bloß jetzt unter weit kapitalistischerer Führung.

Ob die Gebäcke dadurch besser werden können, muss die Zukunft zeigen, Großbäckereien sind jedenfalls bereits eine ganze Menge gestürzt und nicht wieder aufgestanden.