1001 Worte - die Babyverschwörung

 

(Von Ingmar Hensler)

 

 

„Ruhig auch mal schreien lassen“, hört man da von gestandenen Mammis und denkt sich in Anbetracht ihrer eigenen Brut, ob das wohl wirklich eine so gute Idee sein könnte.

Aber es fängt ja schon viel früher an, nämlich direkt im Krankenhaus, wenn die Hebamme der neugebackenen Mammi verkündet, dass das liebe Kleine seinen Wärmehaushalt noch nicht selbst richtig steuern könne und man es deshalb schön warm anziehen sollte. Das ist sicherlich für die ersten Wochen vollkommen richtig. Aber sobald die junge Familie dann aus dem Krankenhaus raus ist, klingt dieser Satz wie ein Dogma im Hinterkopf der Mutti nach und wird auch dementsprechend als unterschwelliges Kommando befehlsartig befolgt - das Kleine wird von nun an immer und überall dick und warm angezogen.

Eigentlich sollte ja irgendwann ein Denkprozess einsetzen. Eigentlich sollte irgendwann von selbst gemerkt werden, dass im Hochsommer eine dicke Jacke über dem Pullover und dem Shirt über dem Body und der Weste vielleicht doch keine so gute Idee ist. Hätte man nämlich sogar über den ersten Hebammensatz nachgedacht, so hätte sich ergeben, dass das mit dem Wärmehaushalt auch in die andere Richtung zu gelten hat, nämlich dass man zu viel Wärme ganz schlecht wieder loswerden kann - als Baby schon gar nicht. Hunde haben ihre lange Zunge auf der sie Kühlwasser verdunsten, Erwachsene ziehen sich eben aus, wenn es zu heiß wird und schwitzen, aber Babys dürfen sich nicht ausziehen. Und wenn sie dann auch noch anfangen zu schwitzen, dann ist das doch wieder nur ein Zeichen dafür, dass sie krank sind, erkältet oder fieberig, und folglich nur noch dicker angezogen werden sollten.

„Babys werden hierzulande eher zu dick angezogen als zu dünn.“ Sagte einmal eine Kinderpflegerin. Wenn man es aus seiner Liege heraushebt, es nicht hustet und auch sonst keine ungesunden Anstalten macht, sein Rücken aber dennoch schweißnass ist, sollte man sich überlegen, ob eine Kleidungsschicht weniger nicht vielleicht doch völlig ausreichend sein könnte.

Wenn ein Baby anfängt, zu schreien, dann wird das schon irgendeinen Grund dafür haben. Für einen derart kleinen Menschen gibt es aber nun einmal nur eine abzählbare Menge an möglichen Gründen, die er auf die einzige Art, die er in seinem Alter vermag, mitteilen möchte - schreien. Wenn er hunger hat, schreit er, wenn ihm langweilig ist, wenn er zu müde ist, wenn er sich vollgeschissen hat und die Windel überläuft, wenn es ihm schlechtgeht. Das sind sogar jedes Mal andere Schreie und man kann sie unterscheiden lernen - sagt zumindest die Forschung. Bloß die Reaktion des Versorgers verändert dann die Art des Schreiens. Allerdings ist ‚wenn es ihm schlechtgeht‘ ein bisschen zu schwammig für die meisten Menschen. Es kann natürlich hießen, dass ihm zu kalt ist, aber eben auch, dass ihm zu warm ist. Es kann heißen, dass ihm die Windelfülle schon jetzt ausreicht, dass es mal richtig pubsen muss, dass es Blähungen hat oder eine Kolik, dass es ernsthaft krank ist oder es sich alleine gelassen fühlt.

Nun, für Mütter gibt es natürlich kein ‚zu warm‘ und ‚alleine gelassen‘ oder ‚gelangweilt‘ ist natürlich auch Unsinn, weil man ja selbst auch mal etwas zu tun hat. Die Windelfülle lässt sich wohl noch am eindeutigsten überprüfen und die Erfahrung sollte nach wenigen Versuchen zeigen, wann es Blähungen sind, denn spätestens, wenn es ihm bessergeht, wenn er sich ausgeschissen hat, wird es das wohl gewesen sein. Panische Hypochondermütter rennen sicherlich wegen solcher Dinge direkt zu einem Spezialistendoktor, andere haben zu viele Ratgeber gelesen oder in ihrem Umfeld, dass sie mal etwas von ‚drei Monats Koliken‘ gehört haben. Im Zweifelsfall wird danach alles darauf geschoben und jedes Quengeln, jedes schreien wegen voller Windel, Alleinsein, Langeweile oder gar Hunger ist dann diese vermaledeite Kolik.

In die gleiche Sparte fällt der ‚plötzliche Kindstod‘.

Wenn ein Kleinkind tod in seinem Bettchen liegt, die Familienverhältnisse problemlos erscheinen, dann wird wohl niemand als Erstes an Mord denken. Eine Morduntersuchung durch die Polizei würde außerdem gleich einen riesigen Haufen Papierkram hinter sich herziehen, was natürlich jeder lieber vermeiden würde. Wenn das Kind aber nun mal tod ist, dann ist es eben so und im Nachhinein festzustellen, woran es denn gelegen haben könnte ist natürlich müßig. Folglich steht im Totenschein dann bloß „Plötzlicher Kindstod“. Nicht, weil es so bequem ist, sondern weil alles andere nur begrenzt Sinn ergibt. Dabei ist diese Todesart eben keine solche, kein Phänomen, keine Krankheit oder eine Behandlung, die zum Tod geführt hat, sondern bloß der halbmedizinische Fachausdruck für ‚keine Ahnung‘. Es ist eben Tod.

Aus ähnlichem Grund mussten wir in unserer Kindheit Berge an Spinat in uns hineinschaufeln

Spinat galt als sehr eisenhaltig, was sich im Nachhinein als ein verschobenes Komma in der Analyse herausgestellt hatte.

und gelten Menschen mit Doppel-Y-Chromosom als Schwerverbrecher

Eine amerikanische Studie an Gefängnisinsassen hatte auch Menschen mit solchen Anomalien gefunden, die allesamt natürlich Schwerverbrecher waren - in einem Gefängnis sehr selten. Die Verteilung entsprach jedoch genau der allgemeinen Verteilung in der Bevölkerung, sagte also rein gar nichts aus.

.

Nun sind Mütter aber scheinbar generell leicht panisch in Bezug auf ihre Kinder und so wird dann schnell mal - zutiefst wissenschaftlich - alles, was irgendwie einen negativen Nachgeschmack hat als wahrscheinliche Ursache für diesen plötzlichen Kindstod angesehen und hat natürlich zu unterbleiben. Das Kind dreht sich zum Schlafen gerne auf den Bauch? Bauchliegen hat mal jemand gesagt ist schlecht, ist also eine Todesgefahr, hat also zu unterbleiben. Das Kind ist scheinbar nicht warm genug angezogen, weil es hieß, dass die Kleinen warm angezogen sein müssen? Klarer Fall, bald isses hinüber.

Ganz perfide wird es allerdings, wenn es darum geht, das Kind zum Einschlafen zu bewegen, es dazu zu bringen, nicht mehr zu schreien und ganz allgemein dazu, die Mutter nicht mehr vollständig zu beschäftigen.

Resultat von letzterem Punkt ist wohl in unseren Tagen, dass die Kinder vor dem Fernseher geparkt werden. Selbst in Familien, in denen man es aufgrund des allgemeinen Bildungsgrades definitiv besser weiß, in denen jeder weiß, dass Fernsehkonsum in jedem Kindesalter die Bildungschancen eliminiert, zu geringerer, geistiger Leistungsfähigkeit führt und auch nicht dazu führt, dass das Kleine besser oder früher sprechen lernt. Allerdings ist es eben recht bequem, da man dann eben nicht mehr ganztags mit dem Kind beschäftigt ist. Wenn man obendrein jedem Konflikt aus dem Weg geht und das Kind schon einmal Lunte gerochen hat, was für ein Spaß, diese Flimmerkiste sein kann, obendrein dem Beispiel Eltern folgen möchte und auch jeden Mist in der Glotze anschauen. Etwas, das jeder Geistes- und Gehirnwissenschaftler als beweisbar tödlich für eine gesunde geistige, kindliche Entwicklung betrachtet und als zu unterlassen brandmarkt.

Genau so verhält es sich auch mit dem Konzept ‚jedes Kind kann schlafen lernen‘. Irgendwie scheint dieses Pamphlet weit bekannter zu sein als seine geisteswissenschaftlichen Auswirkungen auf das Vertrauensverhältnis des Kindes, denn wenn es schreit, dann wird schon irgendwas sein, siehe oben. Das Konzept verlangt nämlich, dass man das Kind ins Bett legt und schreien lässt. Nach einer gewissen Zeit, sagen wir fünf Minuten, geht man dann hin und beruhigt es, verlässt den Raum abermals. Fängt es wieder an zu schreien, verdoppelt man die Wartezeit und geht erst dann zur Beruhigung über und so weiter. Irgendwann wird es dann eingeschlafen sein.

Dass bereits diese einfache Beschreibung nicht funktioniert, wenn er die ganze Nacht aus einem ernsten Grund brüllen würde, ist jedem eigentlich sofort klar. Dass dabei ausgeklammert wird, dass das Kind nicht gelernt hat, einzuschlafen, sondern sich irgendwann einfach nur so müde geschrien hat, dass es eben deswegen eingeschlafen ist, ebenfalls.

Der Geisteswissenschaftler hat dazu den Einwand parat, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Kind und Mutter ganz erheblich gestört wird. Selbst nach Freud durchlebt das Kind anfangs seine orale Phase, versucht also vor allem, seine Nahrung zu sichern. Die Machtausübungsdränge, die zur Analen Phase zählen, kommen wesentlich später als das Einschlafproblem. Die Bindung zur Mutter ist das einzige, was es in der Anfangszeit hat und so fängt es auch sofort an zu schreien, wenn es die Mutter nicht mehr sieht, wenn es keine Bezugsperson entdecken kann - was eingedenk seines sehr begrenzten Sichtradius‘ schnell der Fall ist. Die Beziehung zu seiner Mutter ist nun einmal das Einzige, was er in dieser Zeit hat und wird dem Säugling dies genommen, empfindet er das als alles andere als angenehm. Die Sicherheit, dass die Mutter immer und überall für ihn da ist, ist die Erste, die er in dieser Zeit aufbauen muss. Diese muss gefestigt und ausgebaut werden, um dem späteren Kind eine Grundlage für Selbstvertrauen und Rückgrat zu geben. Erst zu einem späteren Zeitpunkt der frühkindlichen Entwicklung lernt es, dass die Mamma eben auch da ist, wenn sie nicht direkt in Sichtweite ist, dass sie auch da ist, wenn sie nicht da ist. Dies ist aber auf keinem Fall im Säuglingsalter der Fall und kann sehr wahrscheinlich zu frühkindlichen Traumata führen, deren Auswirkungen auf die spätere Entwicklung des Menschen von kosmischem Ausmaß sind.

Es ist anzunehmen, dass das Konzept des ‚jedes Kind kann schlafen lernen‘ ursprünglich für eine Altersgruppe erdacht wurde, in welcher das Kind schon zu hypotalamischen Denkprozessen fähig ist, sich also das Gedächtnis mitsamt der Fähigkeit zu logischen Folgerungen bereits entwickelt hat. Dies zur Grundlage genommen, mutiert dieses Zwangskonzept zu einem Lernzyklus anstatt zu einer emotional zerrüttenden, traumatischen Erfahrung und kann als eine solche auch langfristig problemlos abgespeichert, also gelernt werden. Erst in diesem Alter wird aus diesem Zwang ein Lernprozess.

Ohne all dieses psychologische und neurologische Grundlagenwissen jedoch folgt der Schluss, dass man dies mit Kindern jeden Alters machen könne, also auch mit Kleinkindern, Säuglingen. Selbst wenn es funktionieren mag, ist die Auswirkung doch eine katastrophal andere und die grundlegende Schlussfolgerung genauso falsch wie die, das Kind ständig dick einzukleiden.

Aber was weiß ich schon, bin ja nur‘n Kerl.