Was wollte sie?

Immer wieder denke ich darüber nach, was sie eigentlich an jenen Tagen gewollt hat, als sie sich in meinen Sphären aufgehalten hat. Was wollte sie, was bezweckte sie? Hatte es einen tieferen Grund, der sie dazu trieb sich in meiner quasi unmittelbaren Nähe aufzuhalten und abzuwarten bis das unvermeidliche geschieht, bis sie mich, bis ich sie zu Gesicht bekomme, wir uns einmal mehr sehen könne, wenn auch nicht Aug in Aug so doch in für mich deutlich spürbarer Nähe.

Einmal, es war vergleichsweise unmittelbar nachdem sie mich verlassen hatte, brach sie in mein Jagdrevier ein. Ich hatte gerade meine neue Liebe in Händen, hatte sie im Arm und sprach meine süssesten Wünsche zu ihr, als ich fühlte wie etwas sehr bekanntes hinter meinem Rücken meinen Weg quert. Mir blieb alles im Halse stecken was ich gerade sagen wollte, mir blieb sogar jedes Lächeln aus, dass ich meiner eunen angebeteten darbieten wollte, so sehr berührte mich diese Präsenz in diesem Moment, so sehr schockierte mich dieser Anblick, der so viele alte emotionen schlagartig wieder nach oben kehrte. Natürlich war es für sie vonnöten etwas anzuziehen, ein Kleid zu tragen das ich ihr geschenkt hatte, mit dem ich ihr einmal mehr meine Gefühle, meine unsterbliche Liebe zu ihr offenbaren, betonen wollte, nein, es war auch das Kleid, in dem wir uns einmal sehr erotisch und hemmungslos wild auf meinem Stuhl vor dem Spiegel geliebt hatten - und natürlich war auch diese Erinnerung nicht bei den letzten, die mir durch den Kopf schossen. Da war sie nun, und würdigte mich kaum eines Blickes. Da war sie wieder, die Kälte die mir schon an den letzten Tagen, als sie sich noch mit mir abgab, entgegenschlug. Jetzt erfuhr ich also, wie es all denen ging, die sie nie erreicht hatten, von denen sie einst erzählte sie nie zur Kenntniss genommen hätte aus welchen Gründen auch immer - und ich hasste es. Aber das war noch nicht alles. Zwar gelang es mir, meine emotionalte interruption vor meiner neuen Verehrung verborgen zu halten, wenn auch nicht vollständig, aber so doch durch eine glaubwürdige Ausrede verschleiert, aber umso mehr ging es mir an die Nieren, dass ich nun mitansehen musste, wie sie begann die Grundzüge meiner neuen Existenz nach ihr umzukehren. Hatte ich bisher kaum einen Abend in dieser Kneipe verbracht ohne eine neue Frau kennen zu lernen, ohne mit einer von ihnen nach Hause zu gehen und dort eine Menge Spass mit ihnen zu haben, so musste ich nun feststellen, dass dies als aussenstehender, doch weit weniger spassig ist, wenn dies diejenige macht, der man sein Herz geschenkt hat, der man es zu Füssen gelegt hat und die sich nun einen Spass daraus macht, darauf herumzutrampeln. Immer wieder musste ich mitansehen, wie sie von wieder einem neuen Verehrer eingeladen wurde, wie sie schon wieder von einem anderen angequatscht wurde und wie sehr sie es genoss, so begehrt zu sein. Immer wieder musste ich sehen, dass ich in ihrem Leben mehr als nur abgemeldet war, und sie wurde auch nicht müde, dies fast jeden Abend aufs neue zu betonen. Selbst, wenn sie einmal ein Wort mit mir sprach, so war dies doch nur von genau jener Kälte beseelt, die sie mir nun stets entgegenzubringen wusste. Wenn man weiss, dass seine Freundin schon die halbe Stadt gehabt hat, ist dies nicht so schlimm. Wenn man die Namen oder auch ihre Beschreibungen kennt, wenn man viel von diesen Leuten weiss die die eigene Frau auch schon hatten, so ist dies gerade noch ertragbar wenn man im Vergleich nicht gar so schlecht abschneidet. Wenn man jedoch auch nur einen davon kennt, so zerreisst es einem extrem das Herz und alles was dazugehört - für sehr lange Zeit.

Und doch wurde in Frage gestellt, ob ich für sie so irrelevant war, denn einmal, als ich mit einem alten bekannten sprach, mich mit ihm auch über sie unterhielt, liess er überdeutlich ihr Interesse an meiner Person, an meinen Aktivitäten durchblicken, erzählte mir, dass sie ihn über mich ausgefragt hätte. Warum hatte sie bloss nach mir gefragt, was konnte sie an mir denn noch interessieren, was war es, das sie von mir noch immer wollte?

Ein anderes mal sah ich sie im Sommer in der Stadt. Ich war nur auf dem Weg zu meiner Bank, wollte einen ganz trivialen Kontoauszug holen und mich versichern, dass ich überhaupt noch ein paar Pfennige besass. Schon auf dem Hinweg hatte ich gesehen, dass sie da in meine Stammeisdiehle sassen, sie und ihre beste Freundin. Schon auf dem Hinweg kämpfte ich damit, meinen Mund nicht zu trocken werden zu lassen, nicht den Atem, nicht den Boden unter den Füssen zu verlieren, meine Knie nicht gar zu wackelig werden zu lassen und meinen Puls in etwa im Rahmen des für Menschen erträglichen zu halten, auch wenn er sich immer mehr dem eines Kolobris annäherte - und es gab nichts, das ich dagegen hätte unternehmen können. Wieder lag die Frage nah, was sie ausgerechnet in meiner umittelbaren Nähe, ausgerechnet in meiner Stammeisdiehle suchte, da sie genausogut wie ich wusste, dass ich spätestens am Abend dort bei meinen Eltern einen Cappuccino schmarotzen würde. Mir blieb in diesem Moment jedoch ersteinmal nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass sie bei meiner Rückkehr nicht mehr da sein würde und ich vom Schicksal auch sonst keine solche emotionale Prüfung auferlegt bekäme. So ging ich meinen Weg und nachdem ich mich vor dem Automaten erst in Selbstzweifeln vergraben hatte um mich dann über einen Lottogewinn zu freuen, endlich wieder ein wenig beruhigt hatte, sich mein Puls ein wenig dem vielleicht eines Pinguins angenähert hatte, konnte ich auch wieder stabil gehen. Jedoch auch nur so lange, bis ich abermals an diesem Eiscafe vorbei musste. Noch immer sassen die beiden dort, und ich erkannte das Kleid das sie anhatte noch einmal wieder, ertrug noch einmal die Quaalen der Erinnerungsschübe zu diesem ihrem Kleidungsstück. Wie konnte es auch anders sein, stammte auch dieses aus meinem Portemonai. Wie konnte es auch anders sein, hatte ich damit meine unendliche Liebe bekunden wollen als ich sie in der Umkleide von Benetton darin betrachtete und sie mich förmlich engelsgleich anlächelte. Abermals schoss mir auch zu diesem Kleid eine Erinnerung der eher horizontalen Art durch den Kopf, und dies im wahrsten Sinne des Wortes, liebten wir uns doch an Ort und Stelle sogleich auf demselben stückchen Boden, an dem wir begonnen hatten, zu der Musik in unserem Kopf zu tanzen, bis, tja, bis ich entdeckte, dass sie unter dem dünnen, langen Kleid ja gar keine Unterwäsche an hatte und nicht anders konnte als mich von diesem Strudel des damit einhergehenden Verlangens mitreissen zu lassen. Zu schade, dass sie mir später einmal vorwarf, doch die Idee des tanzens sogleich mit dieser horizontalen Konsequenz zu assoziieren, denn dies stimmte nur zu einem Teil, bedeutet für mich doch Tanz immer auch Erotik, immer auch die Poesie der Körper. Jedenfalls ging ich, wieder sehr angeschlagen von dem Anblick den ich kaum mehr fassen konnte, von dem ich jedoch meine Augen aber auch nicht abwenden wollte, die leichte Steigung des Platzer hinauf. Ihre Freundin sass mehr in meine Richtung und grüsste mich auch recht nett, was ich ihr sogar beantwortete. Allerdings konnte ich keinesfalls ertragen, was ich dann hätte aushalten müssen - die Blicke ihrer selbst. "Da schau mal, der Ingmar!" konnte ich ihre Worte hören und ihre blitzartige Bewegung in meine Richtung war das letzte, was ich noch sah bevor ich meinen Kopf dann in Sicherheit wendete.

Aber was sollte all das? Warum war sie da? Warum war sie so an meinem erscheinen interessiert, dass sie so aprupt darauf reagierte als sie von mir erfuhr? War sie vielleicht doch noch auf der Suche nach mir? Wollte sie doch noch von mir wissen? Wollte sie vielleicht doch provozieren, dass ich mit ihr spreche, dass ich sie bitten kann zu mir zurück zu kommen? Sicherlich hätte ich nichts lieber getan als das, wenn ich denn überhaupt ein Wort aus meiner jedesmal schlagartig ausgetrockneten Kehle herausbekommen hätte. Vielleicht hat sie auch gerade deshalb immer Kleider getragen, die ich schon kannte, damit ich sie auch mit Sicherheit auf Anhieb wiedererkennen würde, damit ich sofort einen vertrauten Ansatzpunkt gehabt hätte. Wenn dies der Plan war, dann ging er zu meinem allergrössten Bedauern nach hinten loss, denn vielleicht war es gerade das, was mich in diesen Fällen abschreckte, was mir nur noch mehr den Schweiss auf die Stirn trieb.

Ein wenig später, ich war wieder einmal in recht festen Händen, sah ich sie abermals in diesem Cafe. Es war schon gegen Saison-ende, und sie sass mit ihrem männlichen Begleiter drinnen natürlich genau an dem Tisch, an den wir uns auch immer gesetzt hatten. Wie konnte es auch anders sein, trug sie abermals Kleidung, die mir bekannt war, jedoch hatte ich sie ihr diesesmal nicht geschenkt. Sie hatte ihren schwarzen Body und den Flickenrock an. Zu beidem schossen mir diesesmal nur ihre Geschichten dazu durch den Kopf, die mich nicht so sehr schmerzten wie die Erinnerungen an Momente unserer Zweisamkeit. Über ihre Bodies hatte sie immer gesagt, dass diese die Verhütungsmethode ihrer Mutter für sie seien, da diese so schwer auszuziehen wären, was auf diesen schwarzen welchen ebenfalls zutraf, denn er hatte keine Knöpfe. Den Rock liess sie im Sommer immer wallen, und wen ihr das zu langweilig war, und sie nicht so recht wusste, wohin eigentlich mit ihren Händen, dann wurde er auch schon einmal an einem Zipfel gepackt und über die Schulter gehängt. Dass sie dabei jedoch den Blick auf ihr Hinterteil frei gab fiel ihr meist erst ein, wenn sie damit schon eine Weile umhergelaufen war, es also viel zu spät war. Selbst ihre Sandalen weckten in mir alte, liebevolle Erinnerungen, liess sie diese doch sehr niedlich unter sich baumeln - so gross war sie ja nicht. Tief in die Augen konnte ich ihr schauen in den Sekundenbruchteilen, in denen ich sie im vorbeigehen dort sah, aber das reichte aus. Keinerlei Zuordnung konnte ich mehr vornehmen, keine emotionale Regung in ihren Augen, in ihrem voll geschminkten Gesicht erkennen und abermals stürzte mich dies in tiefste Trauer.

Und wieder einmal blieben die Zweifel, was sie dort gewollt hatte. Wenn sie nur in ein Eiscafe hätte gehen wollen, so hätte es mit Sicherheit schönere in dieser Stadt gegeben. Wenn sie mit einem männlichen Wesen einen Cafe hätte trinken gehen wollen, so hätte es mit Sicherheit ebenfalls romantischere Orte gegeben, an denen man sich besser unterhalten kann als dort - und ich weiss es, denn ich habe sie alle ausprobiert. Bleibt nur die Möglichkeit, dass sie eben an genau diesen Ort wollte, an dem wir einst sassen und uns liebend die Finger küssten, an dem wir fast täglich unsere Liebe zelebrierten und der Welt kund taten. Weshalb auch sonst der Platz am Fenster, durch das man einen leeren Parkplatz sehen konnte?

Später dann sah ich sie nur noch an mir vorbei laufen. Das eine mal, ich hatte gerade die Renovierungsarbeiten an einem unserer Häuser abgeschlossen, ging ich völlig verschwitzt und verschmiert mit meiner Freundin wieder nach Hause, als ich Sie vor dem Schaufenster dieses Hauses vorbeischlendern sah. Ich hatte sie sofort erkannt, war mir aber noch nicht vollkommen sicher, auch wenn mein Herz bereits begann so schnell zu schlagen, wie es das nur tat wenn sie in der Nähe war. Ich sagte meiner Freundin nichts von dem, was ich gerade gesehen hatte. Schon das letzte mal, als ich ihr von meiner Entdeckung im Vorbeigehen an der Eisdiehle erzählte, stürmte sie gleich los um ihr 'Aufs Maul zu geben', und diese Peinlichkeit meiner neuen Gespielin wollte ich auf jeden Fall verhindern, dazu waren meine Gefühle zu eindeutig als dass ich mich so vor Ihr bloss stellen wollte, dass ich mich durch sie so blamieren wollte. Als sie dann mit mir aus dem Haus und die hundert Meter über die Strasse nach Hause ging sah ich sie dann wieder mit ihrer Freundin vor einem Schaufenster. Sie schaute sich kurz um, sah uns wohl kommen. Was sie jedoch an hatte war irgendwie gar nicht so typisch dem, was ich von ihr kannte. Sie hatte sich zu dem gemacht, was zwar alle wollen, aber auch nur für die horizontale. Sie hatte sich zu einer dieser billigen Disco-schlampen gemacht, die jedem Orsay-Trend hinterher rennen müssen. Sie hatte sich zu dem gemacht, was ich nie für sie wollte, was ich für sie immer verabscheute - und es machte mich unheimlich an. Als wir dann an ihr vorbei gingen schaute sie noch immer in das eigentlich leere Schaufenster, wandte ihre Blicke von mir ab und liess uns kommentarlos vorübergehen, ebenso wie ihre Freundin.

Und wieder einmal stellt sich die Frage, was sie eigentlich dort gewollt hat. Es scheint in keinster Weise logisch zu solch später Stunde, zu der kein einziges Geschäft mehr geöffnet hält, mit einer Freundin durch eine dahingehend völlig uninteressante Stadt zu schlendern, zu der sie ohnehin mit dem Wagen fahren muss. Dass sie sich dann auch noch so sehr in der Nähe der Häuser aufhalten muss, dass sie so sehr in der Nähe der Orte spazieren gehen muss, an denen wir einst gemeinsam gelebt, an denen uns wir einst geliebt hatten, setzt der Unwahrscheinlichkeit noch die Krone auf. Wieder bleibt nur noch, dass sie womöglich das Gefühl provozieren wollte in meiner Nähe zu sein, die Vergangenheit einmal mehr vorüberziehen zu lassen und zu geniessen, woran sie erinnert würde - so wie es mir jedes mal geht, wenn ich an dem Ort vorüber gehe, an dem wir unser erstes Rendesvous verbrachten, an dem wir unsere erste, halbe Nacht verlebten, an dem wir uns das erste mal küssen, an den Ort schaue, an dem wir uns nächtens unter dem Schein des Mondes unter offenem Himmel liebten. Vielleicht wollte sie auch nur ihrer Freundin einmal mehr zeigen, mit wem sie einmal zusammen gewesen ist, was aus ihm geworden ist und was womöglich aus ihr geworden wäre wen... Aber natürlich ist auch dies bloss reine Spekulation, die sich sicherlich ebenso ausräumen liesse wie all der Zweifel über das Warum jeglichen Tuns ihrerseits. Aber in welche Richtung die Türe dann schwingen mag - wer will es wirklich wissen.

Und warum das alles?

Eine Frage, die beantwortet werden will, aber nicht beantwortet werden soll, da der Konflikt, die Auseinandersetzung mit der Möglichkeit der Fragestellung, mit den möglichen Antworten und ihren Konsequenzen, ihren Folgen für einen labilen Geist wesentlich Produktiver sind als eine definitive Antwort, die jegliche Denkphase beenden würde.