Tod oder Leben v1.0

Oh mein Gott. Ich bin Tod. Ich bin in der Hölle.

Naja, offensichtlich bin ich nicht ganz tod, aber wenn es eine Hölle gibt, dann ist das hier mit sicherheit am dichtesten dran. Was könnte man sich schon schlimmeres vorstellen als ein langes Leben wie dieses. Ich kann auch nicht sagen, dass mir wäre als wäre es gestern gewesen. Zu viel habe ich seitdem denken muessen. Etwas anderes kann ich ja auch nicht mehr, seit dem Unfall. Immer und immer wieder ist es mit vor meinen Augen vorbeigelaufen, dieser Bruchteil einer Sekunde, die mein Leben so einschneidend verändert hat. Immer wieder sehe ich den Wagen, die Schnarchnase, die es nicht einmal für noetig gehalten hat, beim ausscheren auf der Autobahn auf leerer, freier Strecke vollkommen ohne ersichtlichen Grund nach links gefahren ist und mir dabei nicht den Hauch einer Chance gelassen hat, bei der Geschwindigkeit die ich gefahren bin, auch noch auszuweichen geschweige denn abzubremsen. Vor gericht hat er gemeint, er wolle mir eine Lektion erteilen, dass ich in einer hundertzwanzigzone nicht mit über zweihundertvierzig zu fahren hätte. Solche Leute braucht das Land natürlich, solche Menschen die alles besser wissen und sich in Dinge einmischen, die sie nicht das Geringste angehen und dabei auch noch das Leben anderer aufs Spiel setzen. Aber was rege ich mich auf, jetzt kann ich doch nichts mehr ändern. Und selbst wenn es etwas zu ändern gäbe, wenn es tatsächlich noch eine Moeglichkeit gäbe mir zu helfen, wenn es eine medizinische Moeglichkeit gäbe, micht wieder zu "erwecken", ich koennte mich nicht einmal richtig freiwillig melden, denn wirklich melden kann ich mich schon lange nicht mehr.

Genaugenommen konnte ich das in diesem Zustand schon seit direkt nach dem Unfall nicht mehr. Was mich da erwischt hatte beziehungsweise wie und vor allem was mir genau zugestossen war haben die ärzte irgendwann einmal erklärt, aber ich konnte mir das nie merken. Zu sehr fachchinesisch war das ganze für mich und was man nicht wirklich versteht, kann man sich auch sehr schelcht merken, selbst wenn das Gedähtniss und sein Gehirn das einzige ist, was einem noch verblieben ist auf der ganzen Welt. Und genau so ist es zu meinem allertiefsten Bedauern.

Als ich da so auf der Strasse gelegen habe und mich nicht bewegen konnte, nur noch mit offenen Augen da gelegen habe und auf die leere Autobahn gestarrt habe war ich schon am zweifeln, ob ich überhaupt noch lebe. Aber als dann die arzte in ihrem Flitzer angerauscht kamen und versuchen wollten, mich wieder zusammenzuflicken, meinen Augenreflex gemessen hatten und meinten, dass ich wohl noch am Leben sei, wenn auch nur irgendwie, wollte ich ein wenig aufatmen.

Aber es ging nicht. Ich konnte nicht mehr bewusst tief einatmen, konnte nur noch irgendwie so am Leben sein. Ich konnte nicht einmal mehr meine Augen bewegen, konnte nicht mehr woanders hinschauen als geradeaus. Viel mehr als körperliche reflexe habe ich angeblich nicht mehr und nur den Vorschriften der ärzte habe ich es zu verdanken, dass sie die Geräte, die mit der Zeit dazugekommen sind, weil einzelne Reflexe doch angefangen haben zu versagen, nicht abgeschaltet haben. Denn der Unfall hat nicht nur dafür gesorgt, dass ich nichts mehr bewusst machen kann sondern auch dafür, dass da ein gesplitterter Knochen war, dessen Stückchen sich begannen in meinem Körper zu verteilen und so einen Reflex nach dem anderen ausschalteten. Der letzte war leider auch der Augenreflex, nach dem ich dann endgueltig nichts mehr zu sehen bekam, denn man klebte mir einfach die Augen zu, damit die nicht austrocknen sollten.

Was für eine Logik. Bloss damit die sich nicht beobachtet fühlen wenn zwei relativ tote Augen in die Welt hinein stieren, nehmen sie mir eines der letzten Fenster zur Welt, lassen mich vollkommen im dunkeln leben. Aber es stimmt schon, dass die restlichen Sinne für den Verlust eines anderen geschärft werden. Ich konnte fast fühlen, wie ich immer mehr hören konnte, denn das war ja nun der letzte Sinn, der mir geblieben ist. Selbst das Gefühl über die Haut hatte sich schon früh nach dem Sturz verabschiedet und mich immer wie auf Watte liegen lassen. Fast schon den Fledermäusen lauschen konnte ich, so scharf wurde mein Gehoer. Ich kann sogar hoeren, wie einen Stock tiefer jemand mit einem anderen fluestert.

So war es für mich auch kein Problem zu belauschen, wie sich die Aerzte vor der Tür darüber unterhielten, was sie mit mir machen sollten, was mit mir geschehen sollte und wie sie mich am schnellsten loserden könnten, denn ich würde das Krankenhaus zu viel Geld kosten, wenn sie weiter meine Geräte nur für mich aufwenden muessten und obendrein auch noch eine Aufsicht für mich zur Verfügung stellen muessten die auch bloss sicherstellen muesste, dass der Strom nicht ausgefallen sei, denn weglaufen konnte ich ja schlecht und die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich herumdrehen und aus dem Bett fallen würde ist auch ausgesprochen gering.

Das einzige, was ich stets genoss war Besuch, der zu mir kam um sich dann zu unterhalten. Eigentlich hätte ich jeden Besuch genossen, der sich einfach nur unterhielt, auch wenn ich ihn nicht kannte ganz zu schweigen von dem, ueber den sie sich unterhielten. Wahrscheinlich wurde mein Gehoer deshalb mit jedem Tag scheinbar schärfer und besser, gierte nach jeder kommunikation, die mich mit irgendwelchen Informationen versorgen konnte, selbst wenn es die unwichtigsten nebensächlichkeiten waren. Es gibt wirklich nichts schlimmeres, als ewige Langeweile - und genau dazu war ich verdammt. Im Grunde sehnte ich mich nach dem Moment, dass mir die lebenserhaltenden Geräte im Schlaf abgeschaltet würden. Doch woran hätten sie schon untescheiden sollen, ob ich schlafe oder nicht. Manchmal konnte ich das ja nicht einmal selbst richtig.

Es war meine einzige Flucht, die mir noch geblieben war, meine Traeume wirklich zu leben, denn dort konnte ich mich wenigstens noch bewegen, noch richtig leben, noch die Menschen lieben, die ich einmal gekannt habe, die mich auch schon seit ewigkeiten nicht mehr bewucht hatten, aber vielleicht habe ich auch einfach nur jegliches Zeitgefühl verloren, oder gar schlicht verschlafen, dass und wann sie das letzte mal da waren. Wie hätten sie mich auch wecken sollen, wachrütteln hätte nichts gebracht und wachbrüllen ebenfalls nichts, denn sie hätten nicht einmal bemerkt, ob ich wach geworden oder schon gewesen wäre. Es muss ein komisches Gefühl sein, mit einer totenweissen wand zu sprechen, denn offenbar habe ich genau so ausgesehen. Man bekommt einiges mit, wenn andere denken, man würde es nicht - leider muss ich fast sagen, denn nicht alles davon hätte ich wirklich wissen wollen.

Dann aber bekam ich tatsächlich mit, dass die ärzte beschlossen hatten, mein ableben einzuleiten. Ich hätte wohl in der Tat alle Kriterien erfüllt, dass ich nur noch rein biologisch leben würde und nur die Geraete noch meinen Körper am leben erhalten würden, ich also nur noch vor mich hinvegetieren würde. Nicht, dass ich dem widersprochen häette, aber ich hätte mir all das doch ein wenig sanfter gewuenscht, hätte tatsächlich einmal eine Untersuchung dieser Punkte verlangt und sei es nur aus Interesse, wie so etwas abläuft. Mein Todeswunsch, mein Wunsch moeglichst nur noch in meinen Träumen leben zu brauchen, wurde von Tag zu tag grösser und eigentlich konnte ich es kaum mehr erwarten, bis ich endlich nicht mehr aufwachen würde, bis ich einfach in einem schönen Traum stecken bleiben würde - und das stecken bleiben möglichst wörtlich genommen.

Sie erzählten es meiner Familie vor der Tür und sie unterschrieben. Ich dachte schon das alle meine wünsche jetzt endlich in Erfüllung gehen könnten und ich wieder ein "Leben" haben würde - zumindest mehr, als ich das jetzt habe. Verständlicherweise wollten sie nicht dabei sein, wenn es geschehen sollten und überliessen es den Ärzten, den Zeitpunkt zu wählen. Ich hätte es aber auch nicht von ihnen verlangen wollen dabei zu sein, bloss um mich dahin zu schicken, wo ich für sie eigentlich schon die ganze Zeit war. Und mehr als eine Last in ihrem Leben war ich in den letzten Jahren seit dem Unglück ohnehin nicht. Ich hatte ja immer damit gerechnet, dass ich irgendwann auf der Strecken bleiben würde, aber ich hatte immer gehofft, dass es dann kurz und schmerzlos sein würde und nicht in diesem Supergau endete.

Ich bin gerade aufgewacht als ich die Tür aufgehen höre und ein Stück des Aerztegesprächs belausche. "Ok, also alle Kabel ab und dann direkt raus mit ihm." Endlich ist schluss, endlich kommen die ewigen Träume, endlich wieder ein Leben nach diesem gelebten Tod.

Endlose Clips höre ich von meinem Körper schnallzen, kann nur noch hoeren, wie sie Schläuche aus mir herausziehen und dann endlich die Maschinen abschalten. Oh, diese wundervolle Stille, die endlich in meinem Raum herrscht. Ach, wie kann ich ihn schon hören, den Tod wie er an die Tuere meines Körpers klopft und auf baldigen Einlass drängt. Wie gerne würde ich ihm dabei helfen, aber mir bleibt nur noch abzuwarte - wie immer.

Wahrscheinlich schieben sie mich jetzt ins sterbezimmer, oder auch direkt auf die Muellkippe, entsorgen mich wie sich das gehört. Aber bitte erst in ein paar Minuten, wenn ich endgueltig nichts mehr davon mitbekommen werde. Aber moment, wo gehts denn hin? Die Hektik um mich herum ist schon ein wenig merkwürdig. Die scheinen mich wieder anzuklemmen. Was soll das denn? Oder haben sie mich nur zum Zuschauen in einen OP geschoben? wohl kaum. "Ah, da ist er ja. Gut, Herr XXXXX, dann werden wir sie mal zerpflücken." höre ich jemanden sagen, und er hat mit mir geredet, so viel verstehe ich auch jetzt noch. "Ok, holen wir schnell raus, was man verwerten kann und lassen ihn in Frieden sterben." Sehr witzig. Wenn ich noch etwas fühlen würde wäre dies sicherlich die Horrorvorstellung eines jeden Menschen, der sich über meine Situation schon einmal Gedanken gemacht hat, aber so wird dies für mich mit jeder Sekunde, die in den OP geht zur Grotesken Vorstellung eines schlechten Horrorregisseuers, der gerade einen neuen B-Movie plant.

Die Minuten verstreichen. Was würde ich alles darum geben, wenn ich bei dem zuschauen könnte was die da gerade treiben. nur bruchstückhaft kann ich hören, wie sie Schnitte durch meinen Körper setzen, nur in Wage vorstellungen huellen, an welche Knochen sie die Brecher und Spreizer ansetzen um an meine Organe zu kommen und nur mit Bildern aus Fernsehen und Kino ergänzen, wenn ich wieder etwas in eine Schale plumpsen hören kann. Ein ums andere mal lausche ich den Angaben des Assistenten, der meine Körperteile wiegt und zu protokoll gibt, lausche meiner fortschreitenden Vernichtung und frage mich nur noch, wie lange dieses Spiel wohl noch gehen könnte, wann ich endlich auch gestig abschalten werde dürfen.

Langsam aber sicher ist der Sauerstoff in dem Rest Blut, der in meinem Gehirn steht, aufgebraucht. Eine letzte sekunde wird mir noch bleiben mich zu fragen, ob sie mich wieder zusammensetzen könnten, ob ich nicht vielliecht doch noch ein paat Tage so leben bleiben könnte. Doch der Schlaf übermannt mich, die Welt verschwimmt, ich höre nur noch meine Gedanken bis ich dann, ja, bis ich dann.......