1001 Worte...

... über Urteilsfindungsstrategien

Welches ist das richtige Urteil, das ich über jemanden Fälle? Wie kann ich diese oder jene Situation bewerten, was soll ich zu diesem oder jenem Thema sagen, sollte mich jemand danach fragen, welchen Rat könnte ich dazu geben? Fragen über Fragen, und so wenig Antworten, dass wohl jeder selbst zu einer eigenen Antwort finden wird müssen. Aber wie sollte dies am günstigesten geshehen? Welche Art der Situationsbewertung ist die beste, die richtigste? Gibt es überhaupt eine Richtige?

Wirlich eindeutig lässt sich wohl vor allem letztere Frage nicht beantworten, denn im Letzten muss dies ein jeder mit sich selbst ausmachen, auf welche Art und Weise er zu seinem Befund gelangt. Jedoch kann man zumindest den Weg zu diesem Beschluss hin versuchen zu bewerten. Genau hier möchte ich ansetzen, nicht etwa bei der zweifellos müssigen Aufgabe der Bewertung der Urteile selbst.

Es liegt wohl in der Natur des Menschen, dass er auf Anhieb und ohne weiter nachzudenken zu einem Werturteil zu irgend etwas kommen kann, sich ein Urteil über jemanden bilden kann ohne ihn tiefer zu kennen und vor allem auch ohne an diesem Jemand interessiert zu sein. Dass dies oftmals eine Sackgasse ist und zu einer meist unberechtigten Ausgrenzung falsch bewerteter Menschen führt steht ausser Frage. Ebenso, dass es praktisch immer besser ist, möglichst erst beide Seiten zu hören, bevor man eine Situation bewertet - beispielsweise einen Streit, vor Gericht oder bei einem Vertragsabschluss. Wir haben also einen ersten Schritt auf dem Weg zu einer erweiterten Urteilsfindungsstrategie gemacht: Informationsanhäufung.

Gingen wir anfangs von einem spontanen Beschluss aus, der beispielsweise in einem Streitfall die Schuld der einen anstelle der anderen Seite zuweist, so haben wir nun ein weit fundierteres Urteil, indem wir zuvor Informationen über den genaueren Sachverhalt angesammelt haben die es uns ermöglichen, ein präziseres Urteil zu fällen. In diesem exemplarischen Streitfall haben wir nur angefangen, Informationen quasi aus erster Hand zu sammeln, nämlich von den betroffenen selbst. Wie mag der Weg der Weiterentwicklung aussehen?

Wie mag es sich wohl verhalten, wenn uns mindestens eine der beiden Seiten belügt, was den genauen Sachverhalt anbelangt? Wie können wir aufdecken, wer lügt und was die eigentliche Wahrheit ist? Haben wir bisher unsere Informationen aus dem unmittelbaren Problemumfeld gesammelt, suchen wir jetzt einen Grad weiter entfernt, im Umfeld des Problems. Bei einem Gerichtsfall werden dabei Zeugen befragt, die etwas gesehen haben könnten, die womöglich im direkten Umfeld der Streitparteien angesiedelt sind, Angehörige womöglich, die ihrerseits ihre Werturteile über die Personen vortragen die sich streiten, Passanten, die den eigentlichen Streitfall im vorbeigehen mitbekommen haben und so weiter und so fort.

Wir hangeln uns also einen Grad weiter von dem eigentliche zu Bewertenden weg um mit dem nötigen Abstand und mit mehr Informationen über die Verhältnisse der Betroffenen untereinander die Situation bewerten zu können. Haben wir uns, wie es für einen Menschen im allgemeinen völlig normal ist, anfangs ein spontanes Urteil über die Situation gebildet, hergeleitet durch den Gesichtsausdruck und die Nase des einen und die Stimme des anderen, so müssen wir womöglich nach und nach bei einer objektiven Bewertung der angehäuften Informationen unser Urteil abändern, womöglich gar mehrfach wenn die Nadel mal mehr zu der einen, mal mehr zu der anderen Seite hin tendiert. Mit jeweils mehr oder anderen Informationen kann die Situatioin dann schon wieder völlig anders aussehen und wir müssen den Prozess so lange wiederholen, bis entweder keine weiteren Informationen mehr sammelbar erscheinen, oder aber die Nadel des Endurteils deutlich genug in eine Richtung ausschlägt, was jedoch selten genug der Fall ist und am ehesten im Nachmittagsprogramm dokumentiert wird - auf bekanntem Niveau.

Ein Beispiel für einen solchen Fall des hin und her tendierens einer Schuld/Berechtigungszuweisung möchte ich dann doch geben, der mir selbst widerfahren ist, nämlich die ständige auseinandersetzung zwischen Isräl und Palästina. Als ich Anfangs davon gehört hatte und mich ein wenig, zugegebenermassen oberflächlich, darüber informiert hatte, fiel mein Urteil klar und spontan aus. Wenn die einen ständig in die Luft gesprengt werden, dürfen sie sich auch verteidigen, klarer Fall. Doch schon beim ersten Gespräch mit einem anderen Menschen zu diesem Thema wurde mir klar, dass hinter diesem Konflikt doch weit mehr steckt, als bloss das willkürliche Ermorden von Zivilisten durch irgendwelche Radikalen. Anfangs bekam ich mit, dass das Isrälische Militär durchaus Unbegründete Angriffe gegen Palästinensische Stellungen unternommen hatte und dadurch die Gegenseite faktische gelähmt, zumindest jedoch entwaffnet hatte. Was soll ein Land ohne Militär schon gross machen, wie soll es sich zur Wehr setzen? Viele Möglichkeiten bleiben da nicht mehr und wenn man eine Ratte in die Ecke treibt, wird sie einem auch ins Gesicht springen, ob sie eine Chance damit hat oder nicht. Der Verteidigungsfall lag also bei meinem nächsten Urteil dann schon eher bei den Palästinensern. Als nächstes hörte ich etwas von der Schändung des Tempelberges, dem jüdischen Heiligtum. Beide Seiten hatten gleichermassen die Verwaltung dieses Gebietes übernommen, wiel dieses Tempelgebiet sowohl für Moslems, als auch für Juden - und sogar Christen - ein spiritistisches Zentrum darstellt. Dies hatte auch lange Jahre in friedlicher Köxistenz funktioniert, bis es in einem Jahr einen extremen Frosteinbruch gab und von palästinensischer Seite die Anfrage gestellt wurde, auf einem ungenutzten Seitenstück eine Halle für die Wallfahrenden zu errichten, damit sie nicht in der Kälte stehen müssten. Diese Bitte wurde bewilligt, jedoch wurde die Halle etwas massiver und grösser, als es sich die Isrälis vorgestellt hatten. Sie erhoben ausserdem die Anschuldigung, dass archäologische Güter von dieser Stelle ohne wissenschaftliche Ausgrabungen oder gar Befunde von dort weggeschafft wurden, was die andere Seite natürlich dementierte und schon war ein neuer Streit da, der schliesslich mit der Sperrung des Tempelberges für die Moslems endete, was diese wiederum so nicht auf sich sitzen lassen könnten und es kam zu den ersten, gewalttätigen Ausschreitungen, welche wiederum von den Isrälis militärisch niedergeschlagen wurden Schon ging die Nadel der Bewertung wieder zur anderen Seite hin. Dann gab es da noch die geheime Abmachung der Palästinenser mit den damaligen Siegermächten des zweiten Weltkrieges, dass das gesamte Gebiet, das heute Isräl und Palästina umfasst ein gesamtpalästinensischer Staat werden sollte, welche dann durch die Amerikaner gebrochen wurde und stattdessen ein Isrälischer Staat geschaffen wurde. All dies haben die Palästinenser sogar noch relativ Widerspruchslos hingenommen, als jedoch dann die Isrälis angefangen haben, durch kriegerische Handlungen immer mehr des Landes, das eindeutig den Palästinensern zugesprochen wurde, zu annektieren, wurde es etwas unfriedlicher im Zweistromland. Und schon wandert die Nadel wieder gen andere Richtung. Dann war da noch der Versuch einer aussöhnung der beiden Völker durch gemeinsame Projekte hin zu einer friedlichen Köxistenz, die schon alleine dadurch, dass Bürger beider Nationen ebenso in Jerusalem vermischt waren wie es Angehöriger beider Religionen im Rest der Länder, zur pflicht werden musste, wie zum Beispiel eine gemeinsame Sesamstrasse und gemeinsam ausgetragenen Strassenfeste und übergreifende Feiertage. Dieses wurde irgendwann jedoch recht kommentarlos abgebrochen, was die Nadel aufgrund der unpräzisen Informationslage nicht wirklich bewegte. Was jedoch schon eher den Ausschlag geben könnte war die nächtliche Invasion Isrälischer Spezialeinheiten in Jerusalem, was dadurch begründet wurde, dass sie die Stadt vor über tausend Jahren von den Moslems genommen bekamen. Mit solch einer Begründung sollten mal die Indianer versuchen, Manhatten zu besetzen, aber das ist ja "etwas anderes". Und wieder bewegt sich die Nadel etwas. Rechnet man nun noch die Toten gegeneinander auf, so sieht es für Isreal rein bewertungstechnisch schon gar nicht mehr so gut aus und wenn man dann noch ihre mehrere hundert Thermonukleare Langstreckenraketen mit einrechnet sieht es schon ziemlich düster aus. Als letztes kommt dann noch eine Mauer als angebliche Abwehrmassnahme gegen die terroristischen Attacken des Nachbarlandes, welche die Nachbarlichen Gebiete teilweise in nicht lebensfähige Bröckchen zerteilt und per illegal errichteter Siedlungen annektiertes Land einfach vereinnahmt und somit schlichte Fakten schafft ohne Völkerrechtliche Grundlagen.

Auch wenn dieser kleine Überblick über dieses Beispiel etwas selektiv mit Informationen aufwartet und teilweise gar die chronolgie durcheinanderwirft, so macht es doch umfassend klar, auf welche Weise eine Bewertungsfindung erfolgen kann. Durch stetige, kumulative Informationssammlung auf jeder Ebene der betroffenen Existenz - hier militärisch, spirituell und multimedial - kommt man zu immer neuen Einschätzungen und wirft teilweise den schon gefestigt geglaubten Standpunkt vielfach über den Haufen um sogleich zu einer neuen Einschätzung zu kommen in dem festen Wissen, dass die einzige Konstante in diesem Prozess die Veränderung darstellt.

Doch bei all dem ist noch kein Wort über die eigentliche Natur von herangetragenen Informationen verloren worden. Denn was bedeutet schon ein Satz, so schlau er sich auch anhören mag, wenn man nicht weiss von wem und vor allem in welchem Zusammenhang er gesprochen oder geschrieben wurde? Was bedeutet schon eine Information über eine Tat, wenn man deren Grund ebensowenig kennt wie den Standpunkt des Täters, die genauen Umstände und die Bezieungen des Opfers? Alles muss in den richtigen Kontext gesetzt werden. Es gibt keinen Täter ohne ein Opfer. Es gibt immer mindestens zwei Seiten einer Wahrheit, so wie es ja auch immer drei Seiten einer Münze gibt.