1001 Worte - das Konzept der Nichtaufdringlichkeit

Im Grunde ist es durchaus eine Tugend, die Nichtaufdringlichkeit. Von vielen verwünscht von anderen gewünscht wenn man sie von diesen nicht erhält und diese anderen zu extrem aufdringlichen Kreaturen mutieren, die man nicht mehr loszuwerden vermag. Immer wieder rufen sie an, bequatschen einen, was man das Wochenende denn vorhabe und ob man nicht etwas unternehmen wolle, ob man nicht mal wieder essen oder ins Kino gehen wolle, laden einen am Ende sogar noch ein, bloss um partout in Kontakt zu bleiben. Da lobt man sich doch jene Menschen, die ihr Leben in Verachtung solcher Massnahmen verbringen, die in gleichartiger Verachtung der Aufdringlichkeit jener abgeschworen haben und einem nicht chronisch auf den Geist zu gehen versuchen. Doch ist dies tatsächlich die globale Lösung für ein harmonisches Zusammenleben?

Nun, für die harmonie mag dies durchaus zuträglich sein, doch wie verhält es sich mit dem Zusammenleben im Bezug auf das 'zusammen'?

Man mag es verachten so sehr man will, doch eines kann man den Penetranzen in der Bevölkerung nicht absprechen: dass sie viele Menschen kennen würden. Dieses Kennen mag zwar oberflächlich sein, doch zumindest sind sie mit einem grossteil der umliegenden Bevölkerung bekannt, haben deren Telefonnummern, kennen ihre Addressen und wissen ihre Geburtstag oder andere wichtige, persöhnliche Daten. Sie kommen nie in Verlegenheit, nicht zu wissen was sie tun sollen oder wo sie hingehen sollen, was sie am Wochenende machen sollen oder mit wem sie mal wieder reden/telefonieren könnten. Langeweile kommt bei diesen Menschen sicherlich nicht auf, auch wenn sie ihren Beliebtheitsgrad dadurch womöglich nicht gerade erhöhen werden, gestalten sie ihre Freizeit doch geradezu parasitär auf Kosten der Freizeit anderer, die zu höflich sind zu sagen, dass diese ihnen zu aufdringlich sind. Ist es jedoch wirklich das? Ist es womöglich gar nur der Neid der in diesem Moment aus den Bedrängten spricht, wenn sie die Aufdringlichen vor den Kopf stossen? Der Neid über die Fähigkeit so unverfrohren auf andere zuzugehen und diesen ihre Bekanntschaft geradezu aufzuzwingen? Der Neid über die Unbefangenheit mit der sich die Aufdringlichen anderen gegenüber verhalten?

Denn was ist denn die verbleibende Alternative zu diesem Konzept der extremen Zwangskommunikation?

Im Grunde könnte man es auch mit dem genauen Gegenteil halten. Könnte versuchen, sich nichtaufdringlich zu verhalten, könnte jede Möglichkeit, dem Gegenüber auf die Nerven zu gehen, vielleicht einmal zu oft angerufen, einmal zu oft angesprochen zu haben, einmal zu oft ins Kino oder zum Kaffee eingeladen zu haben von sich weisen und schon auf die blosse Gefahr hin jeden derartigen Gedanken verwerfen. Wenn es der andere auch will, dann würde er sich sicherlich melden, werden sich viele denken, die diesem Konzept in Ablehnung der Aufdringlichen folgen. 'Wenn Interesse an mir besteht, wird der Betreffende schon auf mich zukommen.'

Die Folge ist die Unausweichliche, nämlich dass man von niemand anderem angesprochen wird als von den Aufdringlichen.

Wer sollte es auch sonst sein, denn alle anderen, mit denen man sicherlich gerne Kontakt oder mehr Kontakt pflegen würde, werden einen nicht ansprechen, weil sie dem gleichen Konzept folgen und darauf warten, dass sie angesprochen werden. Dass dies nicht funktionieren kann, folgt dem gleichen Muster wie das Warten schöner Frauen in Kneipen und Discotheken angesprochen zu werden - und die Männer trauen sich, abgeschreckt von ihrer Schönheit, nicht. Doch von letzterem Fall kann man ebenso eine Erkenntnis ableiten. Wenn es in der Kneipe dann nämlich jemand versucht, die Schöne anzusprechen und geradezu zwangsweise konzeptlos scheitert, dann wird sich mit Sicherheit jemand finden der als Nachfolger in die Bresche springt und mit dem ersten Satz ersteinmal seinen Vorgänger herunterzumachen versucht um sich selbst als vollkommen anders und natürlich empfehlenswerter darzustellen. Mangels Auswahl ihrerseits sind die Erfolgsaussichten mit diesem Konzept nicht einmal schlecht, denn die potenzielle Konkurrenz traut sich ja nicht zu einer Aktion.

Ähnliches ergibt sich bei den Aufdringlichen und ihren Gegenteilen, welche fortwährend mit Warten und Zurückhaltung beschäftigt sind. Da die Zurückhaltenden sich untereinander nicht ansprechen, weil sie sich nicht penetrant werden wollen und schon jeglicher Gefahr dahingehend aus dem Weg zu gehen trachten, verbleiben die Penetranzien, diesen Teil zu übernehmen. Da die so aufdringlich gewordenen eine Einladung in die Kantine sicherlich nicht nur einer einzigen Person zuteil werden lassen und sich am besten gleich mit mehreren zu umgeben versuchen - möglicherweise auch um ihre eigene, verborgene Unsicherheit zu überspielen - bietet sich in der folgezeit die einzigartige Möglichkeit des Kennenlernens der Nichtaufdringlichen im Umfeld ihrer sie angesprochenen Penetranzien, die quasi als Bindeglied zu fungieren haben.

Was sich aus dem Gedankenspiel ergibt, ist die fast schon evolutionäre Notwendigkeit aufdringlicher Personen, die korrekte Menschen zusammenbringen, die andernfalls aufgrund ihrer fast schon zwanghaften Korrektheit sich betont höflich aus dem Weg gehen würden. Man kann ihnen also mit diesem Schluss nicht einmal böse sein, dass es sie gibt und dass sie so sind wie sie sind, die Aufdringlichen.

Doch wo beginnt eigentlich wirklich die Aufdringlichkeit? Wo fängt sie an und wo hört sie auf - in beiderlei Hinsicht. Wo ist es noch nett ertragbar und wo ist es schon kriminell zeitraubend? Ganz so einfach und grundsätzlich lässt sich dies sicherlich nicht beantworten, zu sehr hängt es doch von den persöhnlichen Einstellungen, den zeitlichen präferenzen und auch dem privaten Beschäftigungsgrad der einzelnen ab die penetriert werden oder auch die selbst aufdringlich sind.

Bestenfalls anhand einiger Beispiele ist dies ad absurdum zu führen, was oben bereits in Andeutungen verdeutlicht wurde. Ist es doch nicht nur das Ansprechen unter Arbeitskollegen oder in Kneipen/Diskotheken, welches unterlassen wird, auch Anrufe zu vermeintlich nächtlicher Stunde werden verdrängt oder so lange verschoben, bis die Notwendigkeit des Anrufs von selbst eliminiert wurde, weil man es dann doch vergessen hat. Wer sagt eigentlich, wann ein Anruf zu spät ist und wann nicht? Würde man sich nicht selbst über einen Anruf eines alten Freundes freuen, wenn er Samstag abends um zehn noch anruft? Würde ein Anruf um neun uhr früh nicht stören, wenn der Schichtdienst unpassend liegt? Ist nicht genau für solche Fälle der Anrufbeantworter erfunden worden? Von sich selbst auf andere zu schliessen ist sicherlich nirgends so angebracht wie bei Telefonaten, doch das gilt in beiderlei Hinsicht. Wenn ich nicht einmal angerufen und vielleicht sogar direkt nachgefragt habe, ob ich störe, dann werde ich es nicht wissen. Und wenn es tatsächlich so sein sollte, dann werde ich es in Zukunft eben unterlassen und mich entschuldigen - Problem gelöst, Kontakt gehalten.

Ähnliches gilt sicherlich für das direkte Gespräch. So lange mir das Gegenüber nicht sagt, dass mich etwas nichts angeht, werde ich fragen bis mir die Zunge zerfleddert aus dem Mund hängt, die Möglichkeit nicht zu antworten besteht für mein Gegenüber immer und so lange er mir antwortet liegt es in seiner Verantwortung mir Informationen gegeben zu haben. Jedoch darf ich in diesem Fall auch nicht zu aufdringlich weiterbohren, wenn mein Gegenüber betont das Thema gewechselt hat, oder mich direkt darauf hingewiesen hat, dass mich etwas nichts anginge. Hier spielt wohl eine entsprechende Menschenkenntnis und ein Gefühl für das richtige Mass von Anstand eine wichtige Rolle, die nicht zu vermitteln ist sondern nur selbst zu erlernen.

Und lernen darf man niemandem verbieten oder gar übel nehmen!